Charkiw. Während sich die Stadt Charkiw auf eine neue russische Offensive vorbereitet, werden die Kinder unterrichtet - an ungewöhnlichen Orten.

Sie heißen Marina, Zlata, Diana oder Olenna, sie sind sieben, elf oder zehn Jahre alt. Sie schauen konzentriert, während sie versuchen, Schiffe aus Papier zu basteln, die „sie weit weg von hier bringen“, sagt ihre Lehrerin lächelnd vom Kopf des Tisches.

Auf ihrer blauen Armbinde steht „Bildung ist ein Recht“. Im Neonlicht einer riesigen Karte des U-Bahn-Netzes arbeitet Maria Tolokonnikowat (63). Auf dem Marmorboden häufen sich Kuscheltiere und Bücher, während das Lachen der Kinder um den Tisch von den mehrere Meter hohen Decken verschluckt wird. Für Maria ist das Ende des Bahnsteigs der U-Bahn-Station Istorytschnyi Musej (Historisches Museum) „der größte Klassenraum“, in dem sie jemals unterrichtet habe.

Maria beeilt sich jeden Morgen, zu „ihrer Station“ zu kommen. Dort unterrichtet sie zwischen den stillstehenden, zu Schlafstätten umgewandelten Zügen für zwei Stunden etwa ein Dutzend Kinder, die hier im Krieg mit ihren Eltern Schutz gesucht haben.

Ukraine-Krieg: Grundschullehrerin will Land dienen

Maria hat Lippenstift aufgetragen, die Haare frisiert, sie trägt enge Hosen. „Je schlimmer es wird, desto mehr muss man Haltung bewahren und gepflegt aussehen. Der Krieg ist keine Entschuldigung, sich gehen zu lassen“, sagt sie. Die Grundschullehrerin will, wie viele andere auch, ihrem Land dienen, das von Russland angegriffen wurde und sich im Krieg befindet.

Maria erfährt von der Invasion, die der russische Präsident Putin am 24. Februar befohlen hatte, erst im Laufe des Tages. Sie wird eine Woche brauchen, um den ganzen Schrecken der Lage zu begreifen. „Ich konnte es einfach nicht glauben. Meine beiden Kinder, die in Kanada und in Irland leben, haben mich ständig angerufen und mich gedrängt, zu ihnen zu kommen. Aber ich wollte nicht flüchten. Ich kenne zu viele Ukrainer im Exil, die Heimweh haben.“

Viele von denen, die geblieben sind, wollen sich nützlich machen, etwas tun. Deshalb hat die Stadt Charkiw begonnen, die Freiwilligen als Lehrkräfte für die in die U-Bahn-Stationen geflüchteten Kinder einzusetzen.

Ukraine: Kinder haben unter Erde kein Zeitgefühl

Vor der Invasion unterrichtete Maria in der Ukraine an einer Grundschule: „Viele meiner Schülerinnen und Schüler haben die Stadt verlassen“, erzählt sie. Auch viele ihrer Kollegen sind geflohen. „Es geht darum zu überleben“, sagt Maria.

Konzentriert sind die Kinder bei der Sache.
Konzentriert sind die Kinder bei der Sache. © François Thomas

Die kleinen Gesichter am Tisch konzentrieren sich darauf, das Papier zu falten. Ein Tablet vor ihnen spielt die Anleitung ab, „damit ein schöner Papiervogel, ein Schiff oder ein Flugzeug, das fliegt, gelingt.“ Die Kinder, die nicht alle das gleiche Lernniveau und dasselbe Alter haben, sollen möglichst sinnvoll beschäftigt werden. „Wissen Sie“, nimmt Maria den Faden auf, „jeder Tag gleicht sich hier. Für die Kinder ist das schwierig. Sie haben kein Zeitgefühl mehr, ob es Tag ist oder Nacht. Die Eltern gestehen mir, dass sie Schwierigkeiten haben, sie zum Einschlafen zu bringen.“

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Diana (10) ist vor mehr als zehn Tagen in der Nachbar-U-Bahn-Station Majdan Konstytutsiji angekommen. Ihr Vater ist unbekannt; seitdem ihre Mutter sie verlassen hat, wächst sie bei ihrem Opa auf. Sie kommen aus dem Dorf Losowa, 20 Kilometer nördlich von Charkiw. Der Krieg ist spät in diesem Ort mit 3000 Einwohnern angekommen. In ihren schmalen Händen hat sich Busik, ein kleiner Hamster, eingekuschelt. Er ist alles, was sie von zu Hause mitnehmen konnte.

„Sie haben alles unter ihren Ketten zermalmt. Häuser und Menschen“

Auf ihrer Schulter liegt die Hand ihres Großvaters Dmytro Poludow, der aufrecht in seinen zu großen Hosen und seinem schäbigen Pullover dasteht. Der ehemalige Bergarbeiter aus Donezk erinnert sich: „Zuerst kamen die Grad-Raketen, dann sind eines Tages die Panzer, die nicht weit vom Dorf postiert waren, einmarschiert und haben alles unter ihren Ketten zermalmt. Häuser und Menschen.“

Neben Diana steht Marina (6). Sie erzählt, dass sie jetzt ein neues Zuhause hat, aber dass ihr ihr Zimmer fehlt, und ihre Katze Persik, die sie in der Wohnung lassen mussten. Schon bei den ersten Bombardierungen ist sie mit ihren Eltern aus dem Stadtteil Saltiwka geflohen, der in Charkiw am meisten leiden muss. „Wir haben das Dröhnen der Raketen gehört, die im Viertel einschlugen, haben uns ein paar Sachen geschnappt, uns in die U-Bahn gequetscht, die hier gehalten hat, und bleiben jetzt hier“, erzählt ihre Mutter ruhig.

Alle fürchten, dass Russland eine neue Offensive startet

Um zwölf Uhr fängt der Zeichenkurs an. Für Maria heißt das, dem Kunstlehrer Nikolaj Platz zu machen, zur nächsten Station, dem Hauptmarkt, weiterzuziehen und eine andere Klasse zu unterrichten.

„Manche Stationen sind voller als andere“, erzählt Maria, während sie ihren Tee trinkt. „Manche Stationen sind brechend voll und das ist hart für die Kinder.“ Manchmal wagen sich die Menschen nach draußen, um einmal den Himmel zu hören. Sobald der Alarm ertönt, sind sie wieder unten.

Seitdem sich der Würgegriff um Kiew gelöst hat und die russischen Truppen sich nicht weit von Charkiw neu gruppieren, schwirren Tausende Gerüchte über eine bevorstehende Offensive durch die Stadt: „Das macht die Menschen extrem nervös und angespannt“, sagt Maria zum Abschied. „Alle reden sich ein, dass sie in der U-Bahn besser aufgehoben sind.“ Noch während sie spricht, ist in der Ferne das Donnern der Raketen zu hören.

Dieser Artikel erschien zuerst auf www.waz.de