Mykolajiw, Ukraine. Salam Aldeen holt mit Bussen Dutzende Ukrainer aus den umkämpften Städten. Die Rettung der meist Frauen und Kinder ist lebensgefährlich

Dicht gedrängt sitzen die Menschen in dem Transporter mit den abgedunkelten Scheiben, zu ihren Füßen und im Gang des Busses stehen ihre Habseligkeiten, manche haben die Augen geschlossen, andere starren vor sich hin. Wer spricht, flüstert. Alle wirken erschöpft, die wenigsten erleichtert.

Als aus einem nördlichen Stadtteil von Mykolajiw das Grollen des Krieges herüber dröhnt, drängt Salam Aldeen zum Aufbruch. „Wir müssen los!“ Bloß schnell raus hier, aus der umkämpften Stadt im Süden der Ukraine.

Ukraine-Flucht: Die Stadt Mykolajiw liegt seit Tagen unter russischem Beschuss

Neun Stunden vorher in Chisinau, der Hauptstadt Moldawiens. Bis zur Morgendämmerung ist es noch ein paar Stunden hin. Salam Aldeen hat in dieser Nacht nicht geschlafen, er ist gerade von der Grenze zur Ukraine wieder gekommen, an der er und seine Mitstreiter vom „Team Humanity“ Lebensmittel an die Wartenden verteilt haben. Jetzt bereitet er eine Evakuierungsaktion vor. Menschen müssen im 300 Kilometer entfernten Mykolajiw abgeholt werden.

Die Stadt Mykolajiw liegt seit Tagen unter Beschuss. Am Mittwoch hat die russische Armee bei ihren Angriffen Raketenwerfer und international geächtete Streumunition eingesetzt, berichtet der Bürgermeister. Mykolajiw gilt als strategisch wichtig. Fällt die Stadt, kann die russische Armee auf Odessa vorrücken. „Es wird für die Zivilisten dort immer gefährlicher“, sagt Aldeen. Deswegen will er so viele von ihnen aus der Kriegszone herausholen.

Ein Foto des toten Flüchtlingsjungen Alan Kurdi änderte sein Leben

Der Berliner Aldeen weiß, was es heißt, Flüchtling zu sein. Er wurde in Chisinau geboren, der Vater ist Iraker. 1992 flieht die Familie vor den Kämpfen mit den transnistrischen Separatisten aus Moldawien nach Dänemark, wo Aldeen zunächst ein normales Leben führt, nach der Schule eine Baufirma gründet. Im September 2015 ändert sich dieses Leben von Grund auf, als er das Foto von Alan Kurdi sieht. Der zweijährige Junge war im Mittelmeer ertrunken, sein Leichnam an die türkische Küste gespült worden. Das Bild des toten Kindes ging damals um die Welt.

Salam Aldeen von der Hilfsorganisation „Team Humanity“ steht hier am Kleinbus und organisiert die Flucht der Ukrainer aus Mykolajiw.
Salam Aldeen von der Hilfsorganisation „Team Humanity“ steht hier am Kleinbus und organisiert die Flucht der Ukrainer aus Mykolajiw. © Maranie R. Staabeinmalige Nutzung zur Geschichte von Jan Jessen | MARANIE R. STAAB

„Ich bin an meinem Geburtstag im Dezember 2015 nach Lesbos gereist, um dort den Flüchtlingen zu helfen. Ich wollte eigentlich nur eine Woche bleiben.“ Aus der Woche wurden fünf Jahre, in denen Aldeen Menschen aus Seenot rettete, von den griechischen Behörden verhaftet wurde, weil sie ihm ohne einen Ansatz von Beweisen Menschenschmuggel vorwarfen, und in denen er sein „Team Humanity“ aufbaute. Nach Lesbos half der 39-Jährige Flüchtlingen in Bosnien, brachte nach der Machtübernahme der Taliban im vergangenen Jahr Menschen aus Afghanistan hinaus.

Die Retter gehen bis an die körperlichen Grenzen

Jetzt also der Krieg in der Ukraine. Seit Beginn des russischen Überfalls sind Aldeen und seine Leute vor Ort, arbeiten nahezu rund um die Uhr. „Wir haben schon um die tausend Leute aus der Ukraine herausgeholt“, erzählt er an diesem Morgen. Er sieht nach den zwei Wochen, die der Krieg nun schon dauert, erschöpft aus, unter seinen Augen haben sich schwarze Ringe breitgemacht, mehr als vier Stunden Schlaf hat er an keinem Tag gehabt. Aus allen Regionen in der Ukraine erreichen ihn in diesen Tagen Bitten, Menschen abzuholen, die es nicht selbst schaffen, das Land zu verlassen.

Den dunkelblauen Sprinter hat Aldeen vor einigen Tagen gekauft, er hätte gerne einen größeren Bus, aber drei Dutzend Menschen passen auch hier hinein. Er und seine Mitstreiter packen Kisten mit Lebensmitteln ein, Babynahrung, Nudeln, Konserven. Vor dem Beginn der Fahrt bekreuzigt sich Oleg, der Fahrer. Der Einsatz an diesem Donnerstag soll so nah an das Kriegsgeschehen heranführen, wie bisher noch keiner. Aldeen hat in den vergangenen Stunden immer wieder mit Kontaktleuten in Mykolajiw gesprochen, sich erkundigt, ob die Wege noch frei sind.

Lesen Sie weitere Reportagen aus der Ukraine:

Nach zweieinhalb Stunden Fahrt ist der Grenzübergang bei Palanca erreicht. Hier stehen schon Dutzende Flüchtlinge in der Eiseskälte des frühen Morgens, Frauen und Kinder mit Koffern und Rucksäcken, sie warten geduldig darauf, rüber zu dürfen. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen hat Beobachter hierhin geschickt.

2, 3 Millionen Menschen sind schon aus der Ukraine geflohen

Erno Simon, Sprecher des UNHCR für Moldawien, erzählt, dass bis zu diesem Donnerstag mehr als 230.000 Flüchtlinge aus der Ukraine die Grenze in das kleine Nachbarland überquert haben. „Insgesamt sind mehr als 2,3 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Das ist die am schnellsten wachsende Flüchtlingsbewegung in Europa seit dem zweiten Weltkrieg“, sagt Simon.

Hinter der Grenze geht es auf der Autobahn M15 weiter Richtung Odessa, an der Schlange der Fahrzeuge vorbei, die Richtung Moldawien unterwegs sind. Ukrainische Soldaten haben auf der Straße etliche provisorische Checkpoints errichtet, kontrollieren scharf und misstrauisch diejenigen, die ins Kriegsgebiet hineinfahren. Jenseits der Straße sind Schützengräben ausgehoben worden.

Wann fällt Odessa, seit Tagen wird mit einem russischen Angriff gerechnet

Es dauert gut zwei Stunden bis Odessa, der Hafenstadt, in der schon seit einigen Tagen mit einem russischen Angriff gerechnet wird. Fällt Odessa den Russen in die Hände, wäre das für die Ukraine eine wirtschaftliche Katastrophe. Auf der Fahrt durch die Millionenstadt mit ihren prächtigen Gebäuden drängt sich an diesem Donnerstag jedoch ein fast surrealer Eindruck von Normalität auf. Die altersschwachen Straßenbahnwaggons zuckeln durch die Stadt, Menschen tragen ihre Einkäufe. Wären da nicht die mit Sandsäcken geschützten Stellungen, die Betonklötze und die Panzersperren aus Metall, die alle paar Meter auf der Straße stehen.

Der Bus voll mit Flüchtlingen fährt von Mykolajiw in der Ukraine nach Chisinau in Moldawien und wieder zurück.
Der Bus voll mit Flüchtlingen fährt von Mykolajiw in der Ukraine nach Chisinau in Moldawien und wieder zurück. © funkegrafik nrw | Anda Sinn

Hinter Odessa nimmt die Zahl der Autos drastisch ab und die Zahl der Checkpoints zu. Auf dem Damm bei Koblewe, wo der Tylihul in das Schwarze Meer mündet sind die Spuren von Beschuss zu sehen. Im Bus ist die Anspannung zu spüren. In den Außenbezirken von Mykolajiw dröhnt plötzlich Geschützdonner, es sind die ukrainischen Verteidiger der Stadt, die Raketen abfeuern. Dann ist das Ziel erreicht, ein Park in Varvarivka im Westen der Stadt, in der die meisten Menschen russisch sprechen, die gleich drei russische Partnerstädte hat, darunter Moskau und St. Petersburg, und die die jetzt von der russischen Armee zusammengeschossen wird.

In dem Bus sitzt auch die 17-jährige Aloina, ihr Vater blieb zurück

Über die Straße hinter dem Park donnern museumsreife ukrainische Panzer. Diejenigen, die hier warten, schauen nicht einmal hin. Es sind fast alles Frauen und Kinder, manche haben ihre Haustiere dabei. Aldeen und seine Mitstreiter packen mit den Helfern vor Ort die mitgebrachten Lebensmittel aus, dann steigen die Flüchtlinge ein. Neben dem Kleinbus der Helfer vom „Team Humanity“ bringen heute zwei große Reisebusse Menschen raus aus Mykolajiw.

In dem Sprinter sitzt auch Aliona. Sie ist 17, mit ihr zusammen sind ihre Mutter, ihre Tante und ihre Großmutter. Sie stand kurz vor dem Abitur, ihr Traum war es, Übersetzerin zu werden. „Die vergangenen Tage waren sehr anstrengend für uns“, erzählt sie, „immer wieder waren die Sirenen und Explosionen zu hören“. Zum Schlafen hat sie sich angezogen ins Bett gelegt, um sich jederzeit in einen Bunker retten zu können.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

„Ich war dagegen, die Stadt zu verlassen. Aber ich kann verstehen, dass meine Eltern wollen, dass ich in Sicherheit bin.“ Aloinas Vater ist in der Stadt geblieben. „Er will sie gegen die Russen verteidigen.“ Wo es jetzt hingeht? „Wir wollen zu Verwandten in Tschechien. Ich will aber so schnell wie möglich wieder zurück nach Mykolajiw. Ich hatte mich so sehr auf meinen Abschlussball gefreut.“

Als sich der Kleinbus in Bewegung setzt, stehen Aldeen und die anderen in dem Bus, sie überlassen den Flüchtlingen die Sitzplätze. Der 39-Jährige schaut sich um, lächelt erschöpft. „Das war eine gute Aktion.“ In Odessa verlassen einige der Flüchtlinge den Bus, sie wollen mit dem Zug weiter nach Polen oder Rumänen. Gegen Mitternacht ist schließlich Chisinau erreicht. Für die erste Nacht kommen die Flüchtlinge bei einer niederländischen Hilfsorganisation unter.

Aldeen macht sich mit seinen Leuten vier Stunden später erneut auf den Weg nach Mykolajiw.