Odessa. Die russische Armee blockiert den Hafen von Odessa. Nun versuchen die Ukrainer, ihr Getreide auf Lastwagen außer Landes zu bringen.

Alla Stoijanowa leitet eine logistische Operation, die für die Zukunft der Ukraine entscheidend ist. Seit drei Monaten schaffen ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das für den Export bestimmte Getreide aus der Region um Odessa heraus. Die Stadt, die unter permanentem Beschuss der russischen Truppen steht, ist die wichtigste Hafen-Metropole des Landes.

Alla Stoijanowa ist die Leiterin der Abteilung für Agrarpolitik im Amt für Strategische Ressourcen von Odessa. Sie beaufsichtigt die gesamte regionale Ausfuhr von Nahrungsmitteln für den Rest der Welt. Vor der russischen Invasion machten die Ausfuhren aus dem Gebiet um Odessa zwölf Prozent der globalen Weizenexporte, mehr als 16 Prozent der Maisexporte und fast die Hälfte der Exporte von Sonnenblumenöl aus.

In der fruchtbaren Region um Odessa lädt ein Mähdrescher Getreide auf einen Lkw. Der Laster fährt später mit seiner Fracht auf verschlungenen Wegen nach Rumänien.
In der fruchtbaren Region um Odessa lädt ein Mähdrescher Getreide auf einen Lkw. Der Laster fährt später mit seiner Fracht auf verschlungenen Wegen nach Rumänien. © picture alliance / AA | Metin Aktas

Mit Kriegsbeginn am 24. Februar war Stoijanowa gezwungen, den Transport völlig neu aufzustellen. „Im März haben wir es geschafft, 200.000 Tonnen Getreide zu exportieren, im April fast eine Million. Im Mai lagen wir bei eineinhalb Millionen; wir hoffen, dass wir im Juni und Juli eine Ausfuhr von jeweils zwei Millionen schaffen.“

Den Bauern in der Ukraine läuft die Zeit davon. Die neue Ernte hat im Juni begonnen. Die Silos müssen leer sein, bevor sie abgeschlossen ist. Die Agrar-Chefin schätzt, dass die neue Ernte insgesamt 50 bis 60 Millionen Tonnen Sonnenblumenkerne, Weizen und Mais einbringen wird. Das ist weit entfernt vom Ertrag der Ernte des vergangenen Jahres, der sich auf fast 100 Millionen Tonnen belief. Stoijanowa spielt das herunter: „Das vergangene Jahr war außergewöhnlich. Jetzt wird es aufgrund der Bombardierung der Felder und der Besetzung von Tausenden Hektar Land in der Region um die Stadt Cherson im Süden nicht das Gleiche sein.“

Die Lastwagen fahren mehr als 200 Kilometer bis nach Rumänien

Jetzt hat sie aber ein drängendes Problem. 20 Millionen Tonnen der letzten Ernte müssen noch vor Ende Juli aus dem Land gebracht werden, um Platz zu machen für das Getreide von diesem Jahr. Die Schwierigkeit: Die Russen haben die Häfen von Mariupol und Mykolajiw besetzt. Und Odessa, der wichtigste und letzte Seehafen, ist seit vier Monaten blockiert.

Vor der Küste kreuzen in weniger als 20 Kilometer Entfernung die Kriegsschiffe der russischen Marine. Sie stoppen jede Ein- und Ausfahrt aus dem Hafen von Odessa. „Wir können kein Schiff mehr bewegen, aus Angst vor einem russischen Bombenangriff.“ Von den Seeminen ganz zu schweigen, die die Ukrainer gelegt haben, um die Russen an der Landung zu hindern.

Für die Ukraine bedeutet das eine wirtschaftliche Katastrophe. Vor dem Krieg liefen fast 65 Prozent aller Ausfuhren des Landes und praktisch 100 Prozent der Agrarexporte über den Hafenkomplex. Dieser besteht aus dem eigentlichen Hafen von Odessa und den Nachbarhäfen Tschornomorsk und Juschne.

Alla Stoijanowa koordiniert den Export von Getreide.
Alla Stoijanowa koordiniert den Export von Getreide. © François Thomas | François Thomas

Seit Wochen holen Lkw Tag und Nacht das Getreide aus allen Silos, in denen noch etwas gelagert wird, verladen und transportieren es ab. Ziel der Fahrzeuge ist der etwas mehr als 200 Kilometer von Odessa entfernte Sulinakanal in Rumänien, einer der Arme des Donaudeltas.

„Die mit dem Inhalt der Lastwagen beladenen Schiffe können die Donau bis nach Deutschland oder in andere Länder hinauffahren. Oder sie können über einen anderen Kanal den rumänischen Schwarzmeerhafen Konstanza erreichen. Alles andere sowie die Details der Strecke sind Militärgeheimnis“, sagt Stoijanowa. Einer der Hauptentladeplätze ist der Hafen in Ismajil. Die Stadt liegt auf der ukrainischen Seite der Donaumündung an der Grenze zu Rumänien.

Ein Teil der Laster fährt von Odessa nach Ismajil. Dort müssen die Fahrer manchmal tagelang warten, bis das Getreide auf Lastkähne mit einer Kapazität von 3000 Tonnen – das entspricht etwa 150 Lkw – umgeladen werden. Diese werden dann von Schleppern gezogen. Oder das Getreide wandert gleich auf eines der größeren Frachtschiffe. Die haben eine Kapazität von jeweils 80.000 Tonnen – das entspricht etwa 4000 Lkw-Ladungen.

50.000 Tonnen Getreide verlassen täglich die Ukraine

Um die Blockade der Russen zu umgehen, sind den Ukrainern alle Mittel recht. „Wir benutzen sogar Fähren, um nach Rumänien zu fahren. Alles, was schwimmen und Getreide transportieren kann, können wir brauchen“, betont Stoijanowa. Derzeit verlassen auf diese Weise fast 50.000 Tonnen Getreide pro Tag das Land, ein Volumen von etwas mehr als eineinhalb Millionen Tonnen pro Monat. Das ist eine beträchtliche Menge, die aber weit unter dem Vorkriegs-Niveau liegt. 2021 konnte die Ukraine auf dem Seeweg ein monatliches Volumen von sechs Millionen Tonnen Getreide verschiffen.

Darüber hinaus sind die Lkw-Strecken gefährlich und weit. Früher konnten die Lastwagen über die Satoka-Brücke den Dnister-Fluss überqueren und das Nachbarland Moldau erreichen. Dann wurde die Brücke von den Russen mehrmals bombardiert und geschlossen. Dadurch wurde der Landweg für den Warenverkehr nach Rumänien noch länger.

Die Export-Kapazität der Ukraine hat während des Krieges stark gelitten. Sie beträgt mittlerweile nur noch 20 Prozent des Volumens von 2021, schätzt die Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen (FAO). Doch nicht nur die Ukraine ist stark eingeschränkt. Auch Russland, der größte Weizenexporteur der Welt, kann wegen der westlichen Sanktionen nur begrenzt ausführen.

Weizenpreis könnte um 20 Prozent steigen

Aufgrund der dramatischen Knappheit an Getreide besteht das Risiko, dass der weltweite Weizenpreis bald um 20 Prozent steigt. Sollte Russland den eigenen Export um die Hälfte reduzieren, ist gar ein Plus von 35 Prozent zu befürchten. Leidtragende wären insbesondere viele Länder Afrikas, Lateinamerikas und Asiens.

„Ich verstehe, dass viele über die sich abzeichnende globale Hungersnot beunruhigt sind“, sagt Alla Stoijanowa. „Aber wir sind nicht die Belagerer von Odessa!“ Für das Problem gebe es keinen diplomatischen Kompromiss, ob dies der Welt passe oder nicht, betont sie. „Die Russen haben von Beginn an gelogen. Und sie lügen weiter. Es gibt nur eine Lösung – und die ist militärisch. Bis zum Sieg.“

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Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.