Berlin. Angesichts des russischen Angriffs hofft die Ukraine auf Notstrom- und Dieselgeneratoren – und üppige Finanzhilfen aus Deutschland.

Alexander Rodnyansky ist von Haus aus Wirtschaftsprofessor an der renommierten Universität Cambridge. Seit 2020 berät er den ukrainischem Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Im Interview mit unserer Redaktion spricht der 37-Jährige über die Zerstörungen des russischen Drohnenkrieges und den Wiederaufbau seines Landes.

Wie hoch ist der Grad der Zerstörung nach den letzten russischen Drohnen- und Raketenangriffen?

Alexander Rodnyansky: Die Art der russischen Angriffe hat sich verändert. Die letzten Attacken waren gezielte Schläge gegen die Energiesicherheit und Energieinfrastruktur der Ukraine. 30 Prozent der Kraftwerke und 40 Prozent der Energie-Infrastruktur wurden zerstört.

Betroffen waren Kohlekraftwerke, Elektrizitäts-Kraftwerke, Umspannwerke und Hochspannungsleitungen. Das Atomkraftwerk von Saporischschja wurde heruntergefahren. Es kommt im ganzen Land zu Stromabschaltungen, die zum Teil einen halben Tag lang andauern. Auch die Gasversorgung für die Heizungen ist sehr stark eingeschränkt.

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Welche russische Strategie steckt hinter den neuen Attacken?

Den Russen geht es nicht nur darum, eine humanitäre Krise auszulösen und die Ukrainer in die Knie zu zwingen. Sie wenden auch ein Instrument des Wirtschaftskrieges an. Nachdem die Ukraine im April dem zentraleuropäischen Stromnetz beigetreten war, haben wir Elektrizität exportiert. Das war möglich, weil die Ukraine mehr Strom produziert, als sie verbraucht. Europa hat von den Energielieferungen profitiert, und die Ukraine erzielte wichtige Exporteinnahmen. Das stützte unsere Währung und stabilisierte unsere Zentralbankreserven.

Der ukrainische Präsidentenberater Alexander Rodnyansky zu Gast in der ARD-Sendung
Der ukrainische Präsidentenberater Alexander Rodnyansky zu Gast in der ARD-Sendung "Maischberger". © dpa

Doch durch die Bombardierung unserer Kraftwerke haben die Russen eine wirtschaftspolitische Front im Krieg eröffnet: Leider haben sie ihr Ziel, die ukrainischen Stromexporte abzuwürgen, erreicht. Unsere Währung und unsere Währungsreserven werden infolge der wegfallenden Einnahmen nicht mehr gestützt. Aber die Angriffe sind auch ein gezielter Schlag gegen die Energiesicherheit der EU.

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Wie hoch beziffern Sie die Kriegsschäden bislang?

Vor den neuesten Angriffen wurden die Schäden für die Zerstörung der Infrastruktur auf rund 120 Milliarden Dollar geschätzt. Die Schäden für die Wirtschaft – Unternehmensschließungen, Arbeitslosigkeit – betragen nach Berechnungen der Weltbank etwa 200 bis 250 Milliarden Dollar. Das Bruttoinlandsprodukt wird in diesem Jahr laut Prognosen um rund 35 Prozent einbrechen.

Steht den Ukrainern ein Frier- und Hungerwinter bevor?

Die Menschen bereiten sich auf die Kälte vor. Sie beschaffen sich Thermokleidung, Notstrom- und Dieselgeneratoren für den Winter. Auf die Ukrainer kommt eine ganz große Krise zu – sie versuchen, mit allen Mitteln gegenzusteuern. Bei der Ernährungssituation sieht es ein bisschen besser aus, weil das Land über große Nahrungsmittelvorräte verfügt.

An diesem Dienstag findet in Berlin eine Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine statt. Was erwartet Kiew?

Die Berliner Konferenz beschäftigt sich vor allem mit den mittel- bis langfristigen Herausforderungen nach dem Krieg. Aber es ist wichtig, schon jetzt den künftigen Wiederaufbau vorzubereiten. Wir erhoffen uns eine bessere Koordinierung mit den westlichen Partnern, damit wir uns auf einen Plan einigen können. Es geht zum Beispiel um die Institutionen, die unmittelbar beteiligt sind.

Zentrale Fragen sind: Gibt es einen Fonds für den Wiederaufbau? Wird eine Agentur errichtet? Welche Mitspracherechte haben die Geldgeber? Es geht aber auch um die konkrete Strategie für den Wiederaufbau. Wir müssen klären, welche Industrien wir fördern sollten. Die Ukraine hat nach wie vor großes Potenzial in der Landwirtschaft – vor allem, wenn diese in den EU-Binnenmarkt integriert werden soll. Über unsere Gaspipelines könnten wir in der Zukunft grünen Wasserstoff exportieren. Auch IT und neue Technologien sind vielversprechende Branchen.

Welche Soforthilfen könnte der Westen noch während des Krieges leisten?

Wir bräuchten jetzt zum Beispiel Dieselgeneratoren, Notstromgeneratoren oder mobile Kraftwerke. Zudem sind wir auf finanzielle Unterstützung der EU und der USA angewiesen. Der Staat muss funktionieren, die Renten müssen ausgezahlt werden.

Wie viel finanzielle Unterstützung erwartet Kiew von Deutschland?

Es geht um einen verlässlichen Zeitplan – zumindest für das nächste halbe Jahr. Wir brauchen jeden Monat vier bis fünf Milliarden Dollar für unseren Haushalt. Wir glauben, dass Deutschland etwa 500 Millionen Dollar pro Monat übernehmen könnte, vor allem mit Blick auf das Jahr 2023. Von der EU insgesamt erhoffen wir uns rund zwei Milliarden Dollar pro Monat.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.