Kramatorsk. Im April rissen russische Raketen am Bahnhof von Kramatorsk 52 Menschen in den Tod. Wie eine Stadt versucht, mit dem Trauma zu leben.

„Jeder hier erinnert sich an den 8. April 2022. Wirklich alle“, sagt Tetianko Andrej Wiktorowitsch, er sitzt an seinem Schreibtisch. „Niemand hat die 52 zerfetzten, vor dem Bahnhof von Kramatorsk zerstreuten Leichen vergessen.“ Überall hätten die Leichenteile gelegen, erzählt der Vorstand von KTTY, den Verkehrsbetrieben von Kramatorsk im Donbass.

Diesem Horrortag zum Trotz fahren die Straßenbahnen der Stadt weiter. „Wir haben weitergemacht“, betont Wiktorowitsch und fährt in einem Atemzug fort. „Alle hatten Angst, aber die Jungs und Mädels saßen hinter dem Steuer. Öffentlicher Dienst heißt Dienst für die Allgemeinheit“, sagt er mit einem schiefen Lächeln.

Tausende Zivilisten warteten wie an diesem Tag auf dem Bahnhof von Kramatorsk, als die russischen Raketen einschlugen.
Tausende Zivilisten warteten wie an diesem Tag auf dem Bahnhof von Kramatorsk, als die russischen Raketen einschlugen. © AFP | FADEL SENNA

Tausende Zivilisten warten an jenem Tag am Bahnhof von Kramatorsk auf ihre Evakuierung aus der Ostukraine. Viele von ihnen waren gerade aus der Straßenbahn gestiegen, als die Raketen einschlagen. Die Explosionen reißen Frauen, alte Menschen und Kinder in den Tod.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht später von einem gezielten russischen Angriff auf den Bahnhof und die Flüchtlinge. Seit Beginn der russischen Invasion ist Kramatorsk der größte Knotenpunkt der Region Donezk, über den die Menschen ihre Heimat verlassen.

Ukraine: Russische Armee erhöht den Druck, die Front rückt näher

Der KTTY-Vorstand an seinem Schreibtisch schüttelt schicksalsergeben den Kopf. Sein Rücken ist etwas gebeugt, als ob das gesamte Unternehmen auf seinen Schultern lasten würde. „Am 12. Mai dieses Jahres hatten wir Jubiläum: 50 Jahre städtischer Verkehrsverbund. So ein Jubiläum wird normalerweise groß gefeiert, aber das war das traurigste Jubiläum überhaupt. Der Bürgermeister war da und hat die Fahrer und Fahrerinnen für ihre Arbeit, die sie seit drei Monaten unter Lebensgefahr machen, ausgezeichnet“, erzählt er.

Der russische Druck auf die Region ist groß. Slowjansk, Kramatorsk oder auch Bachmut, drei Städte, die schon unter Beschuss der russischen Armee stehen, laufen Gefahr, in wenigen Wochen direkt an der Front zu liegen.

Im – wie die Unternehmensfarben – blauen Depot scheinen die Stellplätze verlassen. „Wir hatten hier 46 Busse und 46 elektrische Straßenbahnen.“ Er fügt hinzu: „Zusammen mit den privaten Gesellschaften gab es insgesamt fast 150 Busse, die durch die Stadt und die Vororte fuhren. Von den drei Städten war Kramatorsk im Hinblick auf den ÖPNV am besten erschlossen.“ Heute seien von den fast 200.000 Einwohnern nicht einmal mehr als 50.000 da.

Als die Armee Russlands Anfang April anfingen, Druck zu machen und vorzurücken, habe der Bürgermeister vom Präsidenten den Befehl erhalten, die Stadt zu evakuieren. „Wir haben alle unsere Busse zur Verfügung gestellt,“ erinnert sich der Vorstand. Dann kamen die beiden Raketen. „Und die Russen haben gewagt zu behaupten, dass wir die abgeschossen hätten“, sagt er und schüttelt den Kopf.

Ukraine: Viele von den Fahrern sind an die Front gegangen

Tetianko Andrej Wiktorowitsch liegt seine Arbeit am Herzen. „Die Busse müssen weiterfahren und die Leute befördern. Das schulden wir den Tausenden Menschen, die sich nicht anders fortbewegen können, weil sie keine Autos oder keinen Treibstoff haben.“ Um Unterbrechungen in der Stromversorgung zuvorzukommen, hat der KTTY-Vorstand sogar neun batteriebetriebene Trolley-Busse angeschafft. „Damit können sie auch außerhalb der Stadt und unabhängig vom Stromnetz fahren.“

Von den 384 Fahrerinnen und Fahrern vor dem Krieg halten heute nur noch 128 den Verkehr am Laufen, denn „viele sind an die Front gegangen, wie alle anderen“. Das Depot scheint zu groß für die wenigen Busse, die dort parken.

Olenna (l.) und Valery sind ÖPNV-Fahrerinnen in Kramatorsk.
Olenna (l.) und Valery sind ÖPNV-Fahrerinnen in Kramatorsk. © François Thomas

Trotz des Krieges haben sich die Regeln für die Fahrerinnen und Fahrer nicht geändert. Jeden Morgen um 5 Uhr holt ein Bus sie von zu Hause ab und bringt sie hierher, wo sie ihr Fahrzeug abholen. Der Betriebsarzt führt eine Kontrolluntersuchung durch, „weil sie die Bevölkerung transportieren“, und dann beginnt der Tag.

Am Rastplatz machen zwei Fahrerinnen Pause. Olenna und Valery sind seit fast fünf Jahren dabei und gehören zu den sieben Fahrerinnen, die auch die Linien von Kramatorsk noch fahren. Die junge Olenna (29) hat immer davon geträumt, Busfahrerin zu sein. Dem Einzelkind wurde „von meinem Vater das Fahren auf einem Traktor beigebracht, als ich klein war. Ich liebe das Fahren“, erzählt die junge Frau. Valery (39) neben ihr stimmt zu.

Die Stimmung auf der Fahrt im Bus wird zunehmend aggressiv

Und die Angst? Sie haben Angst, sagen sie, aber sie haben auch ein unerschütterliches Vertrauen in die ukrainischen Streitkräfte an der Front.

Eine verärgerte ältere Frau unterbricht das Gespräch: „Die Batterie ist aufgeladen. Können wir losfahren?“ Valery konzentriert sich in ihrer geschlossenen Plexiglas-Kabine auf die Strecke, während die Straßenbahn langsam losfährt.

Es sind viele „kleine Leute“, die einsteigen und sich setzen. Es sind viele Rentner, die die Straßenbahn nehmen und in der Sonne warten. Plötzlich erschallt die Stimme einer etwa 50-jährigen Frau durch den Bus, die auf die Kamera des Fotografen zeigt: „Wer hat Ihnen die Erlaubnis gegeben?“ Eine andere stimmt ein: „Wir wissen gar nicht, wer Sie sind!“ „Ja, zeigen Sie Ihre Akkreditierung!“

Die Stimmung schaukelt sich schnell hoch. Von einem Ende zum anderen gellen Stimmen durch das Wageninnere. Die Straßenbahn wird zu einem rollenden Verstärker für das Geschrei, in dem die Frustration überkocht. „Ich habe die Nase voll, es gibt nicht genug humanitäre Hilfe und alles wird immer schlimmer.“ „Wer sind Sie?“ „Was machen Sie hier?“ Der Ton wird immer schärfer und die Fragen an uns werden immer mehr zu einem Ventil, über das alle ihre eigenen Probleme ausbreiten. Wut, Groll – alle spucken Gift und Galle und äußern ihren Missmut.

Der Krieg ist da, um zu bleiben, das wissen alle

Eine Frau steigt ein. Etwas pummelig, Sonnenbrille. Eine etwa 50-jährige Frau neben ihr fängt an zu weinen. „Und man findet nirgends mehr Hundefutter“, sagt sie, ihre Schluchzer unterdrückend. Die Frau mit der Sonnenbrille spricht, als wollte sie sich entschuldigen: „Es tut uns leid. Wir haben Angst vor allem, Putins Spionen und anderen Dingen. Sobald jemand einen Fotoapparat oder ein Telefon rausholt, haben wir Angst, dass sie unsere Position weiterschicken und eine Rakete einschlägt. Tja, die Nerven liegen eben bei allen blank.“

Der Bus durchfährt Viertel, in denen sich die Menschen in der Sonne an Blumenbeeten zu schaffen machen und die Alleen säubern. Die Stimmung beruhigt sich ein bisschen.

„Wissen Sie, ich kann Kramatorsk nicht verlassen. Mein Mann hat Krebs und ich muss in seiner Nähe bleiben“, erklärt uns die Frau mit der Sonnenbrille. „Aber jeden Tag muss ich auf der Suche nach Nahrungsmittelhilfe durch die ganze Stadt fahren, um uns zu ernähren. Wir haben eine kleine Rente, aber die reicht nicht wirklich aus.“

Plötzlich ertönt eine Sirene. Die hinter dem Steuer sitzende Valery bringt die Straßenbahn zum Halten und öffnet die Türen, wie es bei Luftalarm vorgeschrieben ist. Die Menschen steigen langsam und murrend aus der Tram aus. Die anfängliche Panik hat einem stillen Fatalismus Platz gemacht. Während die Sirenen weiterheulen, warten die Passagiere im Schatten auf das Ende des Alarms. Ohne Illusionen. In Kramatorsk wissen mittlerweile alle, dass der Krieg da ist, um zu bleiben.

LandUkraine
KontinentEuropa
HauptstadtKiew
Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
Einwohnerca. 41 Millionen
StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
SpracheUkrainisch
WährungHrywnja

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.