Berlin . Die Ukraine befürchtet einen Tabubruch: Den Einsatz von russischen Chemiewaffen bei der Schlacht um Mariupol. Was bisher bekannt ist.

Es ist ein verzweifelter Hilferuf von ukrainischen Soldaten in Mariupol. Alle ihre Infanteristen seien getötet, meldete die 36. Marinebrigade aus der weitgehend zerstörten ukrainischen Hafenstadt. Von den verbliebenen Kräften sei die Hälfte verwundet, und während die russische Armee Mariupol umzingele, gehe die Munition zu Ende und auch die Lebensmittelvorräte.

„Wir wurden abgeschrieben“, klagt die Eliteeinheit über fehlende Unterstützung. Man erwarte jetzt die „letzte Schlacht“. Die Lage in Mariupol spitzt sich zu – für die schätzungsweise 120.000 verbliebenen Zivilisten, deren Evakuierung gescheitert ist, ebenso wie für die ukrainischen Truppen, von denen sich wohl mehrere Tausend Soldaten in der Stadt verschanzen.

Russland droht der Ukraine mit Chemiewaffen

Und es könnte noch schlimmer kommen: Die russischen Angreifer drohen den Eingeschlossenen jetzt mit dem Einsatz von Chemiewaffen. Der Sprecher der am Angriff beteiligten prorussischen Separatisten, Eduard Bassurin, sagte, seine Leute müssten sich nun an die „chemischen Streitkräfte“ der russischen Armee wenden: „Die finden einen Weg, die Maulwürfe in ihren Höhlen auszuräuchern“.

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Kurz nach dieser Erklärung gab es bereits den ersten Alarm: Das ukrainische Asow-Bataillon, das in Mariupol kämpft, berichtete über eine russische Drohne, die eine giftige Substanz auf ukrainische Soldaten und Zivilisten abgeworfen habe. Demnach klagten Opfer über Atemschwierigkeiten und neurologische Probleme wie Gleichgewichtsstörungen. „Drei Menschen haben deutliche Anzeichen einer Vergiftung durch Kriegschemikalien, aber ohne katastrophale Folgen“, hieß es von der Freiwilligeneinheit, die als teils rechtsextrem gilt.

Selenskyj: Chemiewaffen wären neue Stufe des Terrors

Eine Bestätigung gab es am Dienstag nicht. Die russische Seite bestritt den Einsatz von Chemiewaffen. Die Regierungen Großbritanniens und der USA äußerten sich besorgt und kündigten an, sie wollten die Vorwürfe prüfen.

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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warnte, Russland wolle eine „neue Phase des Terrors“ einleiten. „Wir nehmen das sehr ernst“, sagte Selenskyj. Jetzt müsse der Westen härter auf die russische Aggression reagieren. Die ukrainische Vize-Verteidigungsministerin Hanna Malyar meinte später, es könne sich um Phosphormunition gehandelt haben. Auch sie warnte, das Risiko eines Angriffs mit Chemiewaffen sei groß.

Zwar blieben die Hintergründe des Vorfalls zunächst unklar. Aber allein die russische Drohung mit einem Chemiewaffeneinsatz, also mit einem Kriegsverbrechen, ist eine neue Qualität in diesem Konflikt. Machen die russischen Angreifer Ernst, wäre es jene Eskalation, vor der westliche Geheimdienste seit Wochen warnen. Der mutmaßliche Einsatz in Mariupol käme nicht von ungefähr.

Mariupol ist ein strategisches Minimalziel von Russland. Es muss nahezu um jeden Preis erobert werden. Die Hafenstadt ist eingekesselt und unter schwerem Beschuss. Auf dem Fabrikgelände Asowstal sollen sich 3.000 bis 4.000 Kämpfer der Ukraine verschanzt haben. Ein Sturmangriff wäre außerordentlich verlustreich. Die Verteidiger wären auf dem Gelände mit unterirdischen Gängen stets im Vorteil.

Wird Russland tatsächlich so weit gehen? Dafür gibt es drei Erklärungsversuche und mögliche Szenarien:

  • Das Reden über Giftgas ist eine Warnung und Teil einer Angstkulisse: Wir können und werden. Es soll die Verteidiger einschüchtern, zur Aufgabe bewegen.
  • Es ist eine unverhohlene Bitte der Separatisten an die Russen, eine rote Linie zu übertreten. Schon im Syrien-Krieg hatte Kremlchef Wladimir Putin tatenlos zugeschaut, wie die dortigen Regierungstruppen zu Chemiewaffen griffen. In der Ukraine müsste Putin allerdings einkalkulieren, dass der Westen auf die Eskalation seinerseits reagieren würde.
  • Die Separatisten plauderten aus, was längst beschlossene Sache und nur eine Frage der Zeit ist
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US-Verteidigungsministerium: Russland ist bereit für Eskalationen

Konkrete Hinweise auf einen unmittelbar bevorstehenden Chemiewaffenangriff, worauf etwa die Verlegung von Spezialkräften hindeuten würde, gibt es nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums zwar nicht. Aber zu beobachten sind ausreichend Anzeichen zur Bereitschaft im Kreml, die Brutalität des Krieges weiter zu steigern: Von den Gräueltaten an Zivilisten in Butscha und anderen Städten über den Einsatz von international geächteter Streumunition bis zur Verwendung von Phosphormunition in der ostukrainischen Donezk-Region.

Aus westlicher Sicht verdächtig sind auch die wiederholten, aber offenkundig erfundenen Behauptungen Moskaus, die Ukraine bereite einen Chemiewaffeneinsatz gegen russische Soldaten vor. Ein Täuschungsmanöver, um unter falscher Flagge solche tückischen Giftbomben zu verwenden? So sehen es Sicherheitsexperten der US-Regierung.

Einsatz von Chemiewaffen ist international geächtet

Das Ziel wäre klar: Es ginge darum, die ukrainische Zivilbevölkerung zu terrorisieren, Panik zu verbreiten, den Widerstandswillen zu brechen. Allerdings müsste der russische Präsident Wladimir Putin mit einer internationalen Protestwelle rechnen: Chemiewaffen sind durch internationale Konventionen seit Langem geächtet.

Die russische Regierung hat ein entsprechendes, neues Verbotsabkommen 1997 unterschrieben. Doch vermuten die USA und andere westliche Staaten, Russland habe seine Bestände, anders als behauptet und vereinbart, nicht vollständig vernichtet.

Schon in Syrien billigte Putin, dass das Regime Gas einsetzte

Sicheres Indiz dafür sind die offensichtlich von Moskau initiierten Attentate auf den russischen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter sowie gegen den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny – dabei wurde das seit den 70er-Jahren entwickelte Nervengift Nowitschok verwendet.

Diese Attacken nähren den Verdacht, dass Putin keine Hemmungen hätte, Chemiewaffen im Fall der Fälle einzusetzen. Schon vor vier Jahren sah der Kremlherrscher wohlwollend zu, wie in Syrien das von ihm gestützte Assad-Regime mehrmals Chlorgas gegen die Zivilbevölkerung einsetzte. Putin versuchte danach auch, die Regierung in Damaskus gegen internationale Proteste in Schutz zu nehmen.

Einsatz von Giftgas: Wie würde die Nato reagieren?

Fachleute im US-Verteidigungsministerium gehen aber davon aus, dass Russland selbst anders vorgehen würde: Spekuliert wird in Washington etwa über Attacken mit Tränengas, das mit chemischen Kampfstoffen gemischt würde. Als denkbar gilt auch die Verwendung von extrem tödlichem Sarin. Die Nato-Führung hat sich in Brüssel auf solche Szenarien schon vorbereitet.

Beim jüngsten Gipfeltreffen der Allianz wurde beschlossen, der Ukraine vorsichtshalber Schutzausrüstung gegen chemische, nukleare und biologische Waffen zu liefern. Und die zuletzt stark aufgestockten Nato-Truppen an der Ostgrenze vom Baltikum bis nach Bulgarien sind ebenfalls gewarnt, die ABC-Kräfte dieser Einheiten sind in erhöhter Alarmbereitschaft – für den Fall, dass sich chemische oder nukleare Stoffe auch auf Nato-Gebiet ausbreiten.

Die Regierungschefs der Allianz haben unter strengster Geheimhaltung auch beraten, wie die Nato auf einen Einsatz solcher Waffen durch Russland reagieren würde. Details sind öffentlich nicht bekannt. Eine direkte Einmischung in den Ukraine-Krieg durch Nato-Truppen gilt aber selbst in einem solchen Fall als ausgeschlossen. Unterhalb dieser Schwelle ist von einer massiven Aufrüstung der Ukraine bis zur vollständigen Isolation Russlands vieles in Planung.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagt: „Jegliche Verwendung chemischer oder biologischer Waffen durch Russland wäre inakzeptabel und würde schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen.“

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dieser Artikel erschien zuerst auf www.waz.de.