Berlin/Mariupol. Leichen auf den Straßen, Häuser zerbombt: Die Lage in der eingekesselten Stadt Mariupol ist dramatisch. Die Aussichten sind düster.

Es gibt kein frisches Trinkwasser mehr, keinen Strom, keine Heizung, die Telefonverbindungen sind gekappt, die Essensvorräte werden knapp. Für die schätzungsweise noch rund 300.000 Einwohnerinnen und Einwohner von Mariupol, deren Stadt russische Truppen seit drei Wochen belagern und beschießen, wird die Lage immer dramatischer.

Augenzeugen berichten Grauenvolles: „Die gesamte Innenstadt ist eine Ruine, das schlimmste sind hunderte von Leichen auf der Straße“, erklärt der Ukrainer Oleksandr Horbachenko, nachdem er aus der Stadt flüchten konnte. Auf Facebook beschreibt Nadia Sukhorukova aus Mariupol die düstere Stimmung so: „Kein Essen, kein Wasser, kein Licht.“ Und: „Ich bin mir sicher, dass ich bald sterben werde. Es geht um wenige Tage. Ich möchte nur, dass es nicht zu gruselig wird.“

Ein Satellitenfoto vom Sonntag zeigt Brände in der von russischen Truppen eingkreisten Stadt Mariupol.
Ein Satellitenfoto vom Sonntag zeigt Brände in der von russischen Truppen eingkreisten Stadt Mariupol. © dpa

Der griechische Konsul Manolis Androulaikis, der sich jetzt als letzter westlicher Diplomat in Sicherheit brachte, berichtet von Zivilisten, die wahllos von den russischen Angriffen getroffen würden. Nach russischen Attacken lägen auf den Straßen Leichen und verstreute menschliche Gliedmaßen. „Es gab kein Leben mehr. Es wurde einfach alles bombardiert“, erzählt der Grieche. Mariupol werde sich „einreihen bei jenen Städten, die durch Krieg vollständig zerstört wurden – ob Guernica, Coventry, Aleppo, Grosny oder Leningrad“.

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Mariupols Vize-Bürgermeister: „Wir können die Toten nicht mehr zählen“

50 bis 100 Raketen täglich feuern russische Truppen auf die Stadt, 90 Prozent der Wohnungen sind zerstört, vor den Häusern liegen Granatsplitter, Glas, Asche, Mauerreste. Viele Menschen verstecken sich in Kellern. „Wir können die Toten nicht mehr zählen“, sagte der Vize-Bürgermeister Serjey Orlow AP-Reportern, die Fluchtrouten würden weiter beschossen. „Wir denken jeden Tag, dass es nicht mehr schlimmer werden kann, aber es kommt noch schlimmer. Es ist die Hölle“.

Mariana Vishegirskaya steht vor einem durch Beschuss beschädigten Entbindungskrankenhaus. Vishegirskaya überlebte den Beschuss und brachte später in einem anderen Krankenhaus in Mariupol ein Mädchen zur Welt.
Mariana Vishegirskaya steht vor einem durch Beschuss beschädigten Entbindungskrankenhaus. Vishegirskaya überlebte den Beschuss und brachte später in einem anderen Krankenhaus in Mariupol ein Mädchen zur Welt. © dpa | Mstyslav Chernov

Tatsächlich steuert die letzte große Hafenstadt am Asowschen Meer unter ukrainischer Kontrolle auf die finale Katastrophe zu. Rund 3000 Zivilisten sind nach Angaben der Stadtverwaltung bislang getötet worden. Das russische Bombardement einer Kinderklinik, eines Theaters und zuletzt einer Kunstschule, in der hunderte Menschen Zuflucht gesucht hatten, dürfte nicht das Ende gewesen sein.

Die ukrainische Regierung ließ am Montag ein Ultimatum Moskaus zur Kapitulation verstreichen. Dass russische Verteidigungsministerium hatte den ukrainischen Streitkräften in Mariupol bis Montag früh Zeit gegeben, sich zu ergeben. Andernfalls drohe den Verantwortlichen ein „Kriegsgericht“. Für Einwohner stünden Busse bereit, die Richtung Russland oder bei einer Einigung mit Kiew in ukrainisch kontrollierte Gebiete fahren könnten.

Ukraine-Krieg: Die russischen Truppen rücken vor

Alle Flüchtlinge, die nach Russland kämen, würden drei warme Mahlzeiten pro Tag und medizinische Hilfe erhalten. Die ukrainische Regierung lehnte entschieden ab. „Es wird keine Kapitulation, kein Niederlegen der Waffen geben“, sagte Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk. Sie forderte vom russischen Militär die Öffnung eines humanitären Korridors, damit die Einwohner die Stadt sicher verlassen könnten. Stattdessen erlebe man nun eine „echte Geiselnahme“.

Die Stadt ist nach Schätzungen durch rund 14.000 russische Soldaten eingekreist, ihnen stehen auf ukrainischer Seite wohl um die 3500 Soldaten gegenüber – darunter Kämpfer des paramilitärischen Asow-Regiments, das als ultranationalistisch gilt. Die russischen Truppen rücken in Straßenkämpfen vor, Bilder des Moskauer Staatsfernsehens legen den Eindruck nahe, dass sich das ukrainische Militär schon aus mehreren Stadtvierteln und vom Flughafen zurückgezogen hat.

Eine Straße in Mariupol, die durch Beschuss russischer Truppen schwer beschädigt wurde.
Eine Straße in Mariupol, die durch Beschuss russischer Truppen schwer beschädigt wurde. © dpa | Evgeniy Maloletka

Auf militärische Verstärkung können sie vorerst nicht hoffen, wie in Kiews Präsidentenberater Oleksiy Arestovych klargestellt hat: Die nächsten ukrainischen Truppen seien über hundert Kilometer entfernt und müssten durch offenes Gelände, wo die Russen sie angreifen würden, erläuterte er. Militärisches Ziel ist es aber offenbar, russische Kräfte im Kampf um Mariupol zu binden. In Kiew lobt Verteidigungsminister Olexij Resnikow bereits die „Selbstaufopferung“ der Verteidiger, durch die Kiew, Odessa und Dnipro sowie zehntausende Leben in der ganzen Ukraine gerettet würden.

Kommentar: Russlands Vernichtungsfeldzug – Der Gipfel der Verlogenheit

Nach Angaben der ukrainischen Seite sind mehr als tausend Einwohner gegen ihren Willen nach Russland gebracht worden. In speziellen Lagern würden ihre Telefone durchsucht und sie müssten ihre ukrainischen Pässe abgeben. Überprüfen lassen sich diese Angaben nicht. Aber klar ist, dass Moskau mit großer Brutalität vorgeht: Die Zivilbevölkerung werde aus der Luft beschossen, obwohl es in der Stadt keine militärische Infrastruktur gebe, klagt der Chef der Hilfsorganisation Caritas in Mariupol, Rostislaw Spryniuk. Die gesamte zivile Infrastruktur werde dem Erdboden gleichgemacht, es keine Schutzkeller mehr, keine medizinische Versorgung und auch keine Vorräte mehr.

Militärexperte: Russland konzentiert sich auf Einnahme von Mariupol

Als „Hölle auf Erden“ beschreibt der CDU-Außenexperte Norbert Röttgen die Lage, er fordert nun mehr Unterstützung für die Ukraine auch von Deutschland. Auch Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) verlangte in Brüssel angesichts der „eindeutigen Kriegsverbrechen“ eine weitere Verschärfung der Sanktionen gegen Russland, vor allem im Energiebereich. Dass die EU zusätzliche Sanktionen beschließen wird, gilt als sicher. Denn westliche Militärs befürchten, dass Russland seine Angriffe auf Mariupol mit gesteigerter Brutalität gegen die Zivilbevölkerung vorgehen wird.

Ein ukrainischer Soldat fotografiert eine beschädigte Kirche nach dem Beschuss eines Wohnviertels.
Ein ukrainischer Soldat fotografiert eine beschädigte Kirche nach dem Beschuss eines Wohnviertels. © dpa | Evgeniy Maloletka

Die Stadt hat zentrale strategische Bedeutung. Wenn Russland sie besetzt, kontrolliert es einen Korridor von den Separatistengebieten in der Ostukraine bis zur Krim. Präsident Wladimir Putin brauche etwas, das er als Sieg verkünden könne, heißt es unter Nato-Diplomaten. Der renommierte US-Militäranalyst Michael Kofman erwartet, dass sich die russischen Truppen in dem bevorstehenden „Zermürbungskrieg“ für die nächsten zwei Wochen darauf konzentrieren werden, Mariupol einzunehmen, während Städte wie Kiew noch nicht angegriffen würden. Dann könnte Russland versuchen, die ukrainischen Streitkräfte im Osten des Landes langsam einzukreisen. Kofman fürchtet, die bisher fehlenden Erfolge würden die russischen Soldaten „durch größere Zerstörung ausgleichen.“

Dieser Artikel erschien zuerst auf www.waz.de.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt