Odessa. Marjinka war mal ein Oase, die sich nach Frieden sehnte, als wir sie besuchten. Der russische Angriffskrieg hat sie komplett zerstört.

In der Zavadoskaya-Siedlung in Marjinka gab es einmal eine kleine Oase. Vor einem Wohnblock hatte eine ältere Frau einen kunterbunten Phantasiegarten angelegt, Fliegenpilze aus alten Töpfen, Palmen aus Plastik, Autoreifen in leuchtenden Farben. Auf ihre Hauswand hatte die Frau geschrieben: „Wir brauchen Frieden.“ Diese Oase gibt es nicht mehr. Es gibt Marjinka nicht mehr. Die Kleinstadt im Osten der Ukraine ist dem Erdboden gleichgemacht worden.

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Marjinka ist kein bedeutender Kriegsschauplatz wie das so erbittert umkämpfte Bachmut weiter nördlich. Die Geschichte der Kleinstadt 27 Kilometer südwestlich von Donezk ist fernab der Wahrnehmung der Weltöffentlichkeit zu Ende gegangen. Früher lebten in Marjinka etwa 12.000 Menschen. Ihr Leiden beginnt schon vor neun Jahren, als Donezk von prorussischen Separatisten eingenommen wird. Auch Marjinka fällt kurzzeitig unter ihre Kontrolle. 2014 und 2015 wird um die Kleinstadt heftig gekämpft. In den Jahren danach liegt die kleine Stadt an der Front eines köchelnden Konflikts, wird immer wieder beschossen. Mehr als 100 Zivilisten sterben bis zum Jahr 2021.

Ukraine-Krieg: Vor einem Jahr leuchtete der Zwirbelturm der Kathedrale

Im April 2021, zehn Monate vor dem Beginn der großen russischen Invasion, sind wir Funke-Reporter in Marjinka. Wir sehen die Narben der Kämpfe der vergangenen Jahre. Die Polizeiwache ist eine Ruine, auf der ein Graffito vor Blindgängern warnt. Die Milchfabrik, in der viele aus der Stadt gearbeitet haben, ist zertrümmert. Eine der beiden Schulen ist zerstört, das Dach ist eingebrochen, in der Schule, in der die verbliebenen Kinder unterrichtet werden, schützen Sandsäcke hinter den Fenstern vor Verletzungen mit Splittern, wenn die Fenster bei Beschuss bersten sollten. Aber der Zwirbelturm der Kathedrale zur Ehren der Gottesmutter Kasan leuchtet in der Frühjahrssonne.

Wir treffen damals Viktor Orekhov im Garten seines kleinen Hauses am Stadtrand von Marjinka, einen Rentner, der müde ist von dem ständigen Beschuss. „Die Situation ist schwierig, aber ich muss hierbleiben“, sagt er auf Russisch. „Wenn ich nicht hier wäre, würde mein Haus und mein Garten doch kaputt gehen.“ Er hat gerade erst Zwiebeln gepflanzt, und er denkt darüber nach, in diesem Jahr auch Möhren und Tomaten anzubauen. „Aber es ist mühsam, weil ich immer wieder Blindgänger ausgraben muss.“

Der Ukraine-Krieg hat Marjinka vollständig vernichtet

Wir treffen in diesem April 2021 auch Yana Gnitsevic, eine frühere Polizistin, die für einige Zeit im Stadtrat von Marjinka gesessen hat. Sie führt uns damals herum, zeigt uns die Schäden eines Konfliktes, der von der Welt verdrängt worden war. Gnitsevic zeigt uns in der Zadodskaya-Siedlung ein graues, fünfstöckiges Wohnhaus, in dem ein Ehepaar durch Granatbeschuss gestorben ist, ein anderes, in dem ein Schrapnell ihren guten Freund Viktor Belotserkovets enthauptet hatte. Viele der Fenster sind blind, die meisten Wohnungen verlassen. Im April 2021 hat bereits die Hälfte der Einwohner die Stadt verlassen.

Marjinka - eine ausgelöschte Stadt, nur Soldaten kämpfen noch in den Ruinen.
Marjinka - eine ausgelöschte Stadt, nur Soldaten kämpfen noch in den Ruinen. © Screenshot/ntv | Screenshot/ntv

Mit dem Beginn der großen russischen Invasion im Februar 2022 wird das Ende der kaum 200-jährigen Geschichte Marjinkas eingeläutet. Russlands Artillerie beschießt die Kleinstadt unaufhörlich aus Stellungen zwischen Wohnblocks in Donezk.

Ein Jahr nach dem Beginn des Überfalls gibt es in Marjinka keine Zivilisten mehr, keine Häuser, keine Kathedrale. Drohnenaufnahmen, die jüngst veröffentlicht wurden, zeigen eine Ruinenlandschaft, eine graue Wüste, aus der die zersplitterten Stämme verbrannter Bäume ragen. Die Kleinstadt ist vollständig vernichtet.

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Ukraine-Krieg: Soldaten liefern sich in den Ruinen Gefechte

Viktor Orekhov, der Rentner, der seinen Garten nicht verlassen wollte, lebt jetzt im Westen der Ukraine. Er muss sich um seinen Sohn kümmern, der im Juli vergangenen Jahres bei der Explosion eines Geschosses ein Bein verliert. Seine Ehefrau stirbt dabei. Yana Gnitsevic ist mit ihrer Mutter und ihrer Tochter nach Dänemark geflüchtet. „Wir haben Marjinka im April, kurz nach Beginn der Invasion verlassen“, erzählt sie am Telefon. Die letzten Zivilisten seien im Dezember aus der Stadt herausgebracht worden, in das russisch kontrollierte Territorium im Osten. Jetzt liegen sich in den Trümmern Soldaten beider Seiten gegenüber und liefern sich Gefechte in den Ruinen.

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Seit dem Beginn des russischen Überfalls sind in Marjinka mindestens 20 weitere Zivilisten gestorben, sagt Yana Gnitsevic. „Es sind wahrscheinlich mehr, aber viele Leichen konnten nicht geborgen werden“, erzählt die 33-Jährige. Auch ihr Mann ist in Marjinka geblieben. Er starb im Juli an Krebs, seine Heimatstadt wollte er nicht verlassen. „Das Schlimmste ist, zu wissen, dass es in Marjinka nicht einmal mehr Gräber gibt, die wir besuchen könnten“, sagt Gnitsevic und atmet tief durch. „Es wird nichts mehr von unserer Stadt bleiben, nur die Erde, auf der sie errichtet wurde.“

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