Brüssel. Große Sorge vor einer Eskalation des Ukrainekriegs beim Nato-Gipfel mit Biden: Die Ukraine bekommt mehr Waffen, die Nato rüstet auf.

Wegen des Ukraine-Kriegs erhöht der Westen den Druck auf Russland. Den Nato-Sondergipfel in Brüssel dominierte die Sorge, dass Russlands Präsident Wladimir Putin auch Atombomben oder Chemiewaffen einsetzen könnte. Die Waffenhilfe für die Ukraine wird verstärkt, Putin muss sich auf neue Sanktionen einstellen, der Westen wird massiv aufrüsten.

Alarm wegen Atom- und Chemiewaffen

Die Befürchtung in der Allianz wächst, dass Russland in dem Konflikt Atombomben und andere Massenvernichtungswaffen einsetzen könnte – gegen die Ukraine, um den Widerstand dort zu brechen, aber womöglich auch gegen Nato-Staaten. Die Schutzvorkehrungen werden verstärkt, die militärische Nato-Führung aktiviert entsprechende „Verteidigungselemente“ und verstärkt den ABC-Schutz der Kampfverbände in Osteuropa.

Die Nato wird der Ukraine erstmals Ausrüstung zur Verteidigung gegen chemische, biologische und nukleare Waffen zur Verfügung stellen. Das Material soll auch helfen, falls Russland wie befürchtet Chemie-Fabriken oder andere Einrichtungen beschießt, was ebenso katastrophale Folgen haben könnte, wie Gipfelteilnehmer warnten.

Bundeskanzler Olaf Scholz spricht mit Fumio Kishida (l), Premierminister von Japan, und Joe Biden (2.v.l), Präsident der USA. Daneben stehen Jens Stoltenberg (hinten), Nato-Generalsekretär, Ursula von der Leyen (2.v.r), Präsidentin der Europäischen Kommission, und Justin Trudeau (r), Premierminister von Kanada.
Bundeskanzler Olaf Scholz spricht mit Fumio Kishida (l), Premierminister von Japan, und Joe Biden (2.v.l), Präsident der USA. Daneben stehen Jens Stoltenberg (hinten), Nato-Generalsekretär, Ursula von der Leyen (2.v.r), Präsidentin der Europäischen Kommission, und Justin Trudeau (r), Premierminister von Kanada. © dpa | Michael Kappeler

Mehr noch: Die Allianz deutet erstmals die Möglichkeit an, dass Putin mit einer solchen Eskalation in der Ukraine auch militärische Reaktionen des Westens befürchten müsste. Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte, wenn Russland chemische oder biologische Waffen in der Ukraine einsetze, könnten sich die Giftstoffe auch auf Nato-Gebiet ausbreiten - das könnte für die Bevölkerung „schwerwiegende Folgen“ haben, sie könne kontaminiert werden.

Das heißt im Klartext: Wenn russische Waffen auf diese Weise Menschen im Westen treffen, könnte das die Allianz als Angriff werten. Ist damit die Grenze zum Verteidigungsfall erreicht? Stoltenberg sagte das nicht ausdrücklich, betonte aber: „Die Nato ist immer bereit, auf jegliche Art von Angriff zu reagieren.“

Sicherheitsexperten der US-Regierung spielen entsprechende Szenarien schon durch. Die Botschaft dürfte in Moskau verstanden werden. „Wir sind sehr besorgt über den Einsatz chemischer oder biologischer Waffen“, sagte Stoltenberg. Jeder Einsatz solcher Waffen würde schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen, heißt es der Gipfel-Abschlusserklärung.

Waffenhilfe für die Ukraine

Die Nato-Verbündeten wollen die Waffenlieferungen an die Ukraine verstärken, dazu auch Cyber-Sicherheitsausrüstung bereitstellen. Darauf hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi gedrängt, der per Video dem Nato-Gipfel zugeschaltet war. Er forderte „Militärhilfe ohne Einschränkungen“, etwa moderne Raketenabwehrwaffen, aber auch Panzer und Flugzeuge. Geprüft wird jetzt zum Beispiel die Lieferung von Anti-Schiffs-Raketen.

Doch macht die Nato auch erneut klar, dass sie sich nicht mit eigenen Kräften in den Krieg einmischt: „Wir haben Verantwortung dafür, dass der Krieg nicht über die Ukraine hinaus eskaliert und zu einem Konflikt zwischen der Nato und Russland wird. Das würde noch mehr Tod und noch mehr Zerstörung verursachen“, sagte Stoltenberg.

Auch die Durchsetzung einer Flugverbotszone über der Ukraine lehnt die Nato weiter ab. Eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine steht erklärtermaßen nicht auf der Tagesordnung, doch bleibt die Tür ausdrücklich offen.

Verstärkte Abschreckung

US-Präsident Joe Biden nutzte das Treffen vor allem, um das amerikanische Bekenntnis zur Beistandsverpflichtung zu bekräftigen, das von seinem Vorgänger Donald Trump gefährlich geschwächt worden war. Seine Botschaft: „Die Vereinigten Staaten und unsere Verbündeten werden jeden Zentimeter des Bündnisgebiets verteidigen“.

In Nato-Kreisen heißt es, man müsse sich auf alle Szenarien einer Ausweitung des Konflikts vorbereiten – auch auf den Versuch eines zunehmend in Bedrängnis kommenden Putins, den Westen mit begrenzten Angriffen zu provozieren. Sogar ein Angriff auf Nato-Staaten könne dazugehören, etwa auf Konvois mit Waffen und Hilfsgütern für die Ukraine in Polen – bis hin zu einem Atombombeneinsatz.

Jens Stoltenberg (l.), NATO-Generalsekretär, während eines Treffens mit Andrzej Duda, Präsident von Polen.
Jens Stoltenberg (l.), NATO-Generalsekretär, während eines Treffens mit Andrzej Duda, Präsident von Polen. © JANEK SKARZYNSKI / AFP

Wie die Nato reagieren würde, wurde in streng geheimer Runde im abhörsicheren Tagungssaal beraten. Stoltenberg betont, es gebe für einen solchen Fall Pläne: „Wir übermitteln Russland die sehr klare Botschaft, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann.“ Bislang hatte der Westen darauf verzichtet, demonstrativ die Alarmbereitschaft zu erhöhen.

Die USA haben aber bereits zusätzliche strategische Bomber, die auch für den Atombombeneinsatz geeignet sind, nach Europa gebracht. Und die französischen Streitkräfte haben offenbar die Einsatzbereitschaft ihrer atombewaffneten U-Boote verstärkt.

Nato rüstet auf

Die Nato bereitet eine beispiellose Verstärkung in Osteuropa vor, die Mitgliedstaaten wollen ihre Verteidigungsausgaben deutlich erhöhen. Der Gipfel beschloss, vier neue Kampfverbände in Bulgarien, Ungarn, Rumänien und der Slowakei aufzubauen – zusätzlich zu den vier Battlegroups im Baltikum und Polen, die auch mit deutscher Beteiligung in den vergangenen Wochen bereits deutlich verstärkt wurden. Jeder der neuen Verbände dürfte etwa tausend bis 1500 Soldaten aus den Nato-Staaten umfassen.

Zudem plant die Nato eine dauerhaft starke Ausweitung ihrer Präsenz an der Ostgrenze – am Boden, in der Luft und zur See. Die Rede ist von einem „Neuaufbau“ der Abschreckung und Verteidigung im Osten. Detaillierte Vorschläge sollen die militärischen Nato-Kommandeure ausarbeiten, Entscheidungen sind beim Nato-Gipfel im Juni geplant. Im Gespräch sind acht zusätzliche Brigaden, insgesamt wären das 40.000 zusätzliche Nato-Soldaten.

Die Nato will ihre Ostflanke mit vier weiteren Gefechtsverbänden verstärken.
Die Nato will ihre Ostflanke mit vier weiteren Gefechtsverbänden verstärken. © dpa

Hinzu käme eine umfassende Aufrüstung, zu der Stoltenberg Flugzeuge, Abwehrsysteme, U-Boote und Marine-Kampfverbände zählte. Damit würde die Nato gegen eine Vereinbarung mit Russland von 1997 verstoßen, nach der sie auf größere Truppenpräsenz in den Ostgebieten der Allianz verzichtet: Aber diese Nato-Russland-Grundakte sei ohnehin tot, heißt es im Bündnis.

Neue Sanktionen

Der Westen zieht die Daumenschrauben an. Das war zentrales Thema des kurzen G7-Gipfels und des anschließenden EU-Gipfels in Brüssel, an dem Biden für zwei Stunden teilnahm. Die G7-Regierungschefs beschlossen, Russland den Zugriff auf seine Goldreserven zu erschweren.

Die EU-Regierungschefs waren sich mit Biden einig, dass jetzt vor allem die Durchsetzung der schon beschlossenen Sanktionen im Vordergrund stehen muss: Die Maßnahmen gegen die russische Zentralbank, wichtige Finanzinstitute, russische Politiker und Oligarchen aus Putins Umfeld. Biden drängte auch, die Abhängigkeit Europas von russischen Energielieferungen schnell zu beenden. Die USA würden dabei helfen. Lesen Sie auch:Kommt Gas für Deutschland bald aus Katar?

Mahnung an China

Der Nato-Gipfel ermahnte die chinesische Führung, ihre Unterstützung Russlands in diesem Konflikt einzustellen. China müsse seiner Verantwortung als Mitglied des UN-Sicherheitsrats gerecht werden, den russischen Einmarsch in der Ukraine klar verurteilen und die politische Unterstützung einstellen, sagte Stoltenberg. Man sei sehr besorgt Biden macht auch schon klar, dass sich der Westen auf eine dauerhafte Veränderung einstellen muss.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.