Berlin. Der ukrainische Parlamentspräsident Stefantschuk über Russlands Angriffskrieg, einen Waffenstillstand und die Botschaft an Scholz.

Vor dem Krieg hielt er Reden mit Anzug und Krawatte, zum Interview in unserer Redaktion kommt er im Militäroutfit. Ruslan Stefantschuk, Präsident des ukrainischen Parlaments, trägt ein olivfarbenes Armeehemd und T-Shirt. Der 46-Jährige gehört zum engsten Zirkel um Präsident Wolodymyr Selenskyj. An diesem Freitag trifft der frühere Jura-Professor Kanzler Olaf Scholz und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

Parlamentspräsident im Militäroutfit: ­Ruslan Stefantschuk beim Besuch in unserer Redaktion. Foto: Maurizio Gambarini/Funke Foto Services
Parlamentspräsident im Militäroutfit: ­Ruslan Stefantschuk beim Besuch in unserer Redaktion. Foto: Maurizio Gambarini/Funke Foto Services © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Herr Parlamentspräsident, Bundeskanzler Olaf Scholz hat die Lieferung neuer schwerer Waffen an die Ukraine angekündigt. Ein guter Schritt?

Ruslan Stefantschuk: Die Ukraine ist dafür sehr dankbar. Für uns ist es sehr wichtig, dass das Eis gebrochen ist und die Ukraine die Chance hat, die neusten und modernsten Waffen aus Deutschland zu bekommen. Jetzt geht es auch darum, dass die Entscheidungen schnell umgesetzt werden. Die Waffen müssen zügig geliefert werden. Wie Präsident Wolodymyr Selenskyj gesagt hat: Mit jedem Tag des Krieges werden fast 100 Ukrainerinnen und Ukrainer getötet und 500 verletzt.

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Ist Deutschland damit endgültig in der ­„Zeitenwende“ angekommen?

Ja. Ich sehe nicht nur eine historische Wende, sondern einen Wechsel in der Philosophie in Deutschland. Es gibt aber eine grundsätzliche Wende. Die Menschen in Europa spüren: Der Frieden in der Welt ist nicht sehr stabil. Und Russlands Präsident Wladimir Putin hat nur den ersten Schritt gemacht. Wenn die Ukraine den Krieg verliert, werden russische Truppen innerhalb eines Monats in Polen, Litauen, Estland und Lettland sein.

Tut Deutschland genug bei den Waffenlieferungen?

Natürlich würde sich die Ukraine mehr Waffen aus Deutschland wünschen. Wir brauchen vor allem schwere Waffen wie Panzerhaubitzen, Mehrfachraketenwerfer, Luftabwehrsysteme und Seezielgeschütz. Aber wir freuen uns, dass die ganze Welt reagiert und Hilfe leistet. Natürlich hätten wir gerne mehr. Aber ich glaube, dass dies bereits der erste Schritt ist, dem weitere folgen werden.

Was wären die Voraussetzungen, damit die Ukraine einem Waffenstillstand zustimmt?

Es gibt rote Linien für uns: Wir werden keines unserer Territorien abgeben – weder den Donbass noch die Krim. Diese sind nur vorübergehend besetzt. Zudem werden wir keine Kompromisse bei der Souveränität und der Unabhängigkeit machen. Die Ukraine wird bis zum Sieg kämpfen. Jeder Krieg endet mit einer Kapitulation oder mit einem Friedensvertrag. Wir wollen eine Vereinbarung. Aber nach den Kriegsverbrechen, die die Russen in Butscha oder Irpin begangen haben, wird der Spielraum für ein Abkommen enger. Der Donbass und die Krim sind unser Territorium. Wir werden unser Bestes tun, um sie zurückzubekommen.

Die Ukraine will der EU beitreten. Was kann das Land anbieten, um den Kandidaten­status zu bekommen?

Die Ukraine hat durch ihren Verteidigungskampf gegen Russland bereits dafür gesorgt, dass Europa seit mehr als drei Monaten in Frieden lebt. Sie kann Europa Sicherheit bieten, wenn sie Teil der EU wird. Zufällig liegt die Ukraine neben der Russischen Föderation. Die Ukraine bietet Europa zudem 40 Millionen gut ausgebildete Menschen an, die bereits mit der Idee eines geeinten Europas leben. Die Ukraine kann Europa das Vertrauen in jene Prinzipien zurückgeben, für die jeder ukrainische Soldat sein Leben gibt.

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Sie treffen an diesem Freitag Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Welche Botschaft bringen Sie mit?

Ich habe die Hoffnung, dass Bundespräsident Steinmeier von der großen Mission geleitet wird, die Ukraine zurück in die europäische Familie zu bringen. Er muss einer von denen sein, die der Ukraine die Tür öffnen werden.

Was macht das ukrainische Parlament in Zeiten des Krieges?

Seit dem Kriegsbeginn am 24. Februar kommt das Parlament einmal pro Woche zusammen. Seitdem wurden 160 Gesetze verabschiedet – zum Beispiel für die Unterstützung der Wirtschaft und der Bürger. Ich hätte noch ein Anliegen: Ich möchte Bundeskanzler Olaf Scholz nach Kiew einladen, um eine Rede vor dem ukrainischen Parlament zu halten.

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