Korczowa. Polen hat mehr als einer Million Menschen Schutz gegeben. Ein Besuch an der Grenze mit der deutschen Innenministerin Nancy Faeser.

Tatjana ist raus aus dem Krieg. Sie ist acht Stunden mit dem Kleinbus aus der Nähe von Kiew bis in die Westukraine gefahren, dann weiter nach Korczowa, Polen. An ihrer Seite: ihre Tochter und eine Tasche. Vor ein paar Minuten nahmen polnische Soldaten sie in Empfang, Tatjana und ihre Tochter mussten ihren ukrainischen Pass zeigen, sie bekamen einen Zettel mit Informationen auf Ukrainisch.

Nun stehen Tatjana und ihre Tochter am Grenzübergang im kleinen Ort Korczowa, die Ukraine ist nur 100 Meter entfernt. Gerade kommen nur wenige Geflüchtete über die Grenze, berichten polnische Beamte. An manchen Tagen waren es allein hier im Südosten Polens mehr als 80.000 Menschen.

Tatjana und ihre Tochter bekommen einen heißen Tee, es gibt Suppe, Brot, Obst. Ein polnischer Soldat verteilt Kuscheltiere. In beheizten Zelten neben den Grenzhäusern warten vor allem Frauen und Kinder auf ihre Weiterreise.

An der polnisch-ukrainischen Grenze: Innenministerin Faeser.
An der polnisch-ukrainischen Grenze: Innenministerin Faeser. © AFP | LOUISA GOULIAMAKI

Polen hilft der Ukraine so stark wie kein anderes europäisches Land. Gut 1,2 Millionen Geflüchtete aus dem Kriegsgebiet meldet der polnische Grenzschutz diese Woche, Tendenz steigend. Zum Vergleich: In Deutschland registrierte die Bundespolizei bis Mitte dieser Woche gerade einmal 80.000 Flüchtlinge aus der Ukraine.

Sicher sind es auch in Deutschland mehr, denn viele Ukrainerinnen kommen in privaten Wohnungen unter. Tausende Menschen bieten Hilfe an. Wie viele Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine derzeit in Deutschland sind, weiß niemand genau. Behörden rechnen mit mehreren Hunderttausend Menschen – doch alles ist abhängig von dem Verlauf des russischen Angriffs. Auch Polens Sicherheitsbehörden gehen von weiter anwachsenden Zahlen aus.

Vieles ist abhängig davon, wie viele Schutzsuchende Polen am Ende aufnehmen kann. Und wie viele weiterziehen müssen Richtung Westeuropa, Richtung Deutschland, Frankreich oder Spanien. Klar scheint schon jetzt: Die Frage, wie gut Europa diese neue Krise bewältigen wird, entscheidet sich gerade vor allem hier in Polen.

Ukraine-Flüchtlinge dürfen in Polen arbeiten und werden behandelt

Oder: ausgerechnet in Polen. Das Land mit einer Regierung, die sich bis zuletzt dagegen gewehrt hatte, auch nur ein paar Tausend Kriegsflüchtlinge aus Nahost aufzunehmen. Das Land, das dafür sogar von der EU-Kommission verklagt wurde. Das Land, das im Osten an der Grenze zu Belarus einen Stacheldrahtzaun gebaut hat und ein militärisches Sperrgebiet eingerichtet hatte, weil Belarus-Diktator Lukaschenko Iraker, Afghanen und Syrer per Flieger aus Nahost in die EU schleusen wollte. Es starben Schutzsuchende in polnischen Grenzwäldern.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) ist an diesem Tag hier an die ukrainische Grenze gekommen, trifft ihren polnischen Amtskollegen, auch der französische Innenminister ist gekommen. Sie ist umgarnt von polnischen Grenzschützern und einem Tross an Staatssekretären und Fernsehkameras. Nur ein paar Meter weiter kommt gerade wieder eine Familie aus der Ukraine an, geht an der Ministerin-Traube vorbei, dann Mütter mit Kindern, in der Hand: Reisetasche und ein rosa Kinder-Rucksack. Manche lächeln, viele warten ohne Miene auf Kommandos der polnischen Soldaten.

Die deutsche Innenministerin bedankt sich in ihren Statements bei der polnischen Seite für die Hilfe, sie sagt, sie wolle beim Transport von Schutzsuchenden aus Polen in andere EU-Staaten unterstützen. In Brüssel wurde ein Stab eingerichtet, der koordinieren soll, welches EU-Land wie viele Menschen aufnehmen kann, eine Plattform namens „IPCR“.

Schon bald soll zudem der EU-Innenministerrat zusammenkommen, um Maßnahmen zur Flüchtlingshilfe zu beraten. Und vor allem um Geld locker zu machen für Polen. Denn offenbar ist es eher finanzielle Hilfe, die von der polnischen Regierung angefordert wird, weniger Hilfsgüter.

Polen und Ukraine eint die Angst vor Russland

Wer verstehen will, warum Polens Regierung ihren flüchtlingsfeindlichen Kurs zu einer Willkommenskultur verwandelt hat, muss die Geschichte dieser beiden Nachbarn kennen. Viele Ukrainer arbeiten in Polen, manche haben hier studiert. Aber Polen und Ukraine eint noch etwas: die Angst vor Russland.

Nach dem Angriffskrieg russischer Truppen haben die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten in seltener Geschlossenheit in der Asylpolitik eine historische Entscheidung getroffen. Erstmals in der Geschichte tritt die sogenannte EU-Massenzustrom-Richtlinie in Kraft. 2001 erfunden, um schnell Flüchtlingen aus den Balkankriegen zu helfen. Nun soll sie europaweit und unbürokratisch Schutzstandards für Menschen aus der Ukraine schaffen. Die EU-Staaten gießen diese Regelung nun in nationale Gesetze.

Für Polen heißt das: Flüchtlinge aus der Ukraine sollen bleiben dürfen, auch arbeiten, viele wollten das auch so schnell wie möglich, heißt es. Zugang zum Gesundheitswesen und für die Kinder zu Kita und Schulen ist diese Woche ebenfalls per Gesetz im polnischen Parlament auf den Weg gebracht worden. Polen geht gerade den gleichen Weg, den auch die Politik in Deutschland nimmt: Integration – so schnell es geht. „Wie 2015, nur im Zeitraffer“, sagt ein Regierungsbeamter.

Auch die Deutschen helfen den Polen, schicken Lebensmittel, vor allem Kleidung. Viele fahren mit Konvois aus Hamburg, Berlin, Bochum oder Bamberg hier an die ukrainische Grenze, bringen Hilfsgüter, nehmen Menschen auf der Rückbank mit nach Deutschland. Nicht nur in der Politik gibt es eine europäische Solidarität, auch in den Auffanglagern und Bahnhofshallen an der polnischen EU-Außengrenze. An der Grenze zum Krieg.

Flucht: Weist Polen Asylsuchende ab?

Offiziell gilt der Schutz der EU-Richtlinie für alle Menschen aus der Ukraine. Doch wie sehr das im Alltag der Flucht umgesetzt wird, daran wachsen Zweifel. Denn auch andere wollen raus aus der Kriegszone, sogenannte „Drittstaatler“, Studenten aus Indien, die in Kiew an der Universität lernten. Arbeiter aus Zentralasien, Asylsuchende aus Afrika.

Mehrere Berichte legen nahe, dass einige von ihnen an der polnischen Grenze abgewiesen wurden. Es gab Szenen, in denen rechte Hooligans Jagd auf Menschen mit dunkler Hautfarbe machten. Und auch in der Bundesregierung gibt es warnende Stimmen, die verhindern wollen, dass Polen den Ukrainern volle Integration gewährt – und Drittstaatler aus Indien oder Südafrika lieber weiterschickt, zum Beispiel nach Deutschland.

Am Flughafen von Rzeszow, einer polnischen Grenzstadt, steht an diesem Nachmittag eine Maschine der „Air India“, sie soll indische Gaststudenten nach Hause fliegen, die in der Ukraine studiert hatten. Auch ein Flieger der kanadischen Luftwaffe steht auf dem Rollfeld, einige Hundert Meter entfernt, auf dem Rasen vor dem Zaun am Flughafen sind Patriot-Flugabwehrraketen positioniert.

Ukraine-Krieg: Wie lange hält die Hilfsbereitschaft?

Eine Schlüsselfrage, die sich im Grenzgebiet stellt: Wie lange hält die Hilfsbereitschaft? In Polen, aber auch in der EU? Schon jetzt rufen erste Gemeinden laut polnischen Medienberichten um Hilfe, müssen Hotelzimmer für die Geflüchteten buchen, Sporthallen in Schulen freiräumen, fordern Geld von der Regierung für Essen, suchen dringen Dolmetscher und Psychologen, um Frauen und Kinder zu betreuen. Und die polnische Regierung verlangt von der EU mehr Geld. Und will nicht mehr als die bisher gut eine Million ukrainische Geflüchtete aufnehmen. Die anderen EU-Staaten werden mehr gefordert sein, so der Tenor aus Polen.

Denn das polnische System gerät an Grenzen – ein System, das den Ernstfall einer Fluchtkrise noch nie erprobt hat. Anders als Deutschland 2015. Und ein System, so sagen es polnische nicht-staatliche Hilfsorganisationen, das im Vergleich zu Deutschland schlecht finanziert ist.

Bundesregierung: Geflüchtete sollen dorthin, wo sie hinwollen

Bisher sieht die Bundesregierung davon ab, europaweit Schutzsuchende aus der Ukraine nach Quoten zu verteilen. Menschen, so der Tenor auch von Innenministerin Nancy Faeser, sollen dorthin, wo sie hinwollen, zu Verwandten, Freunden. Dort, wo schon viele Ukrainer leben. Auch deshalb ist Polen derzeit im Fokus der Fluchtbewegung.

Zugleich wächst die Sorge, dass zu wenig Regeln dazu führen, dass am Ende einzelne Staaten und Städte besonders viele Menschen versorgen müssen – und andere niemanden.

Ein paar Kilometer von der Grenze entfernt, im polnischen Niemandsland zwischen Autobahn, Feldern und Wäldern steht eine große Halle, ein paar Fußballfelder groß. Derzeit sind nur ein paar Hundert Ukrainer hier, vor einigen Tagen waren es noch rund 8000.

Vor dem Krieg war hier ein Einkaufszentrum, jetzt sollen sich die Kriegsflüchtlinge für ein paar Stunden ausruhen, auf Pritschen, die in Gängen stehen, dicht an dicht. In den Ecken liegen Kuscheltiere, Kleiderspenden stapeln sich. Mehr ist nicht zu sehen, Eintritt ist für Journalisten verboten.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dieser Artikel ist auf waz.de erschienen