Moskau. Der Moskauer Patriarch Kyrill I. hält den russischen Angriff auf die Ukraine für ein gerechtes Mittel gegen die „Kräfte des Bösen“.

Für Papst Franziskus gibt es in diesen Tagen kein Zaudern. „In Gottes Namen – ich bitte euch: Stoppt dieses Massaker“, sagt er beim öffentlichen Gebet in Rom. Die Waffen in der Ukraine müssten schweigen, bevor „Städte zu Friedhöfen werden“.

Franziskus erinnert an getötete Kinder und wehrlose Alte. Er mahnt eindringlich, das sinnlose Sterben zu beenden. Genau das, so möchte man meinen, muss ein christlicher Geistlicher sagen, wenn eine Armee in ein anderes Land einfällt und es mit Krieg überzieht. Oder?

Der Moskauer Patriarch Kyrill I. fordert jedoch weder Frieden noch Versöhnung. Das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche nimmt nicht einmal das Wort „Krieg“ in den Mund. Ganz so, wie es die Staatsmacht verlangt. Lesen Sie auch: Putins Ziele: Warum Russland die Ukraine angegriffen hat

Mit Freundschaftskuss: Patriarch Kyrill I. und Machthaber Wladimir Putin schätzen sich seit Jahren.
Mit Freundschaftskuss: Patriarch Kyrill I. und Machthaber Wladimir Putin schätzen sich seit Jahren. © EPA-EFE | Yuri Kochetkov

Die Wurzel allen Übels verortet Kyrill im Westen

Doch Kyrill unterlässt nicht nur das Mahnen. Vielmehr weist er den Verteidigern die Schuld zu. Die ukrainischen Soldaten seien „Kräfte des Bösen“. Die Wurzel allen Übels verortet der 75-Jährige aber im Westen. Er wirft der Europä­ischen Union, der Nato und den USA vor, die „Weltführerschaft zu beanspruchen“. All das kennt man längst – von Wladimir Putin.

Der Patriarch schreibt an den Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf fast nur Sätze, die ohne Weiteres aus der Feder des Präsidenten stammen könnten: „Die Völker Russlands und der Ukraine sind durch ein gemeinsames historisches Schicksal verbunden. Die Quellen der Konfrontation sind in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen zu suchen.“

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Ukraine-Krieg: Argumente ganz im Sinne des Kremls

Nach dem Ende des Kalten Krieges, argumentiert Kyrill ganz im Sinne des Kremls, habe „der Nato-Block seine Macht Jahr für Jahr ausgebaut“. Ohne Rücksicht auf Moskauer Interessen und entgegen allen Versprechen. Diese Offensive gegen das heilige Russland führe der Westen im Namen „sogenannter Werte“.

Der Krieg in der Ukraine habe letztlich nur deshalb begonnen, weil die russlandtreuen Separatisten im Donbass „keine Schwulenparaden ertragen wollten“. Weil die Rechtgläubigen angeblich nicht hinnehmen wollten, dass „die Sünde eine Spielart menschlichen Verhaltens ist“. Dies sei der „metaphysische Sinn des Kampfes“, lautet Kyrills Fazit, das viele westliche Beobachter fassungslos zur Kenntnis nehmen.

Von Schwulenparaden im Donbass haben sie noch nie gehört. Woher auch? Homosexuelle werden dort gejagt und verfolgt.

Viele Russen bekennen sich zur orthodoxen Kirche

Viel Neues ist allerdings nicht an dem, was der Patriarch im Angesicht des Sterbens in der Ukraine predigt. Schon im Jahr 2000, parallel zu Putins Amtsantritt als Präsident, verabschiedet die Moskauer Bischofssynode unter Kyrills Führung eine Sozialdoktrin, in der es zwar heißt: „Der Krieg ist Böses.“ Der tiefere Grund der Gewalt liege jedoch „im sündhaften Missbrauch der gottgegebenen Freiheit“.

Schon damals prägt das Bild des verdorbenen liberalen Westens die orthodoxe Weltsicht. Und im Kampf gegen die Sünde „verbietet die Kirche ihren Kindern nicht, sich an Kampfhandlungen zu beteiligen, solange ihr Zweck die Wiederherstellung verletzter Gerechtigkeit ist“. Und wer einen solchen vermeintlich gerechten Krieg führt, der „verdient die größte Hochachtung der Orthodoxie“.

Patriarch Kirill lbei einer Messe drei Tage nach Kriegsbeginn. Er fordert jedoch weder Frieden noch Versöhnung. Die ukrainischen Soldaten seien „Kräfte des Bösen“.
Patriarch Kirill lbei einer Messe drei Tage nach Kriegsbeginn. Er fordert jedoch weder Frieden noch Versöhnung. Die ukrainischen Soldaten seien „Kräfte des Bösen“. © AFP | Igor Palkin

Orthodoxe Kirche Sinnstifterin für viele Menschen

Heiligt also der göttliche Zweck die tödlichen Mittel? Zu verstehen ist all das nur, wenn man sich die Lage der Orthodoxie nach dem Zerfall der UdSSR vor Augen führt. Über Jahrzehnte hinweg hatten die kommunistischen Herrscher die Christen in ihrem Machtbereich als „Feinde des Volkes“ verdammt und verfolgt. Massenhinrichtungen von Popen und Gläubigen, Deportationen in den Gulag, Enteignung und Zerstörung von Kirchen kennzeichneten die frühen Jahre der Sowjetherrschaft unter Lenin und Stalin.

Zu einer Kehrtwende kommt es dann unter Michail Gorbatschow und Boris Jelzin. In der tiefen Krise Russlands nach dem Ende des Kommunismus ist die orthodoxe Kirche für viele Menschen durchaus als Sinnstifterin gefragt. Was fehlt, sind Geld und Güter.

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    Kirche arrangiert sich mit dem neuen Machthaber

    Die Kirchenoberen in Moskau sind damals auf finanzielle Hilfe angewiesen, nicht zuletzt beim Wiederaufbau von Gotteshäusern. Das Geld kommt vom Staat – und von großherzigen Spendern. Die wichtigsten Kapitalgeber sind jene Oligarchen, die sich nach dem Beginn des neuen Jahrtausends schnell dem „System Putin“ unterwerfen.

    Unter Patriarch Kyrill arrangiert sich auch die Kirche mit dem neuen Machthaber – nicht anders als die wichtigsten Repräsentanten des Sports, der Kultur oder der Staatsmedien. Doch müsste man nicht von gläubigen Christen mehr Widerstand erwarten?

    Kyrill fällt die Unterordnung auch deshalb leicht, weil Putin ein mythisch überhöhtes Geschichtsbild vom tausendjährigen Reich propagiert. Der Kremlchef nutzt den Einfluss der Kirche, zu der sich heute rund drei Viertel der Menschen in Russland bekennen, gezielt für seine politischen Zwecke.

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    Kirchenspaltung zwischen Moskau und Kiew

    Dazu zählt nicht zuletzt der Angriff auf die Ukraine. Im Konflikt mit dem „Bruderstaat“ stehen in Moskau Präsident und Patriarch nicht zufällig Seite an Seite. Denn nach dem Ende der Sowjetunion wird Kiew 1991 nicht nur zur Hauptstadt eines neuen Staates.

    Es kommt dort auch zu einer Kirchenspaltung. Ein Teil der orthodoxen Geistlichkeit ordnet sich dem Moskauer Patriarchat unter. Der Metropolit Philaret aber gründet ein eigenes Kiewer Patriarchat. Der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel – das Oberhaupt der orthodoxen Christenheit – erkennt das Kiewer Patriarchat an und entlässt es 2019 in die Eigenständigkeit.

    Das ist jenes Jahr, in dem die Ukrainer Wolodymyr Selenskyj zum Präsidenten wählen. Es ist ein zeitlicher Zufall, der aber zugleich die Fronten des Jahres 2022 markiert.

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    Dieser Artikel ist zuerst auf waz.de erschienen