Berlin. Die ukrainische Armee hat die Kleinstadt Lyman zurückerobert. Die Befreiung zeigt den desolaten Zustand der russischen Streitkräfte.

Die Befreiung der Kleinstadt Lyman ist eine weitere empfindliche Niederlage für die russischen Streitkräfte und den Machthaber im Kreml. Lyman ist zum einen ein strategisch wichtiger Verkehrsknotenpunkt, über den die ukrainischen Streitkräfte nun in die Region Luhansk vorrücken können. Noch wesentlich bedeutsamer aber ist der psychologische Effekt der Befreiung der besetzten Stadt. Ausgerechnet am Tag nach der mit großem Pomp verkündeten und auf dem Roten Platz in Moskau gefeierten völkerrechtswidrigen Annexion der vier ukrainischen Regionen Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja wird der russischen Bevölkerung gezeigt, was von den Versprechungen ihres Präsidenten zu halten ist – nichts.

Immerhin hatte Wladimir Putin lauthals und großspurig verkündet, die annektierten Gebiete würden nie wieder hergegeben. Nach der Rückeroberung von Lyman jedoch vermeldeten die ukrainischen Streitkräfte am Montag weitere Geländegewinne, diesmal im Süden.

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Russische Armee: Teilmobilisierung wird Verluste kurzfristig nicht kompensieren können

Nicht von ungefähr sind Entsetzen und Wut über die Niederlage in Lyman insbesondere in den nationalistischen Kreisen in Russland groß. Erneut sind die eklatanten Schwächen in den Kommandostrukturen der russischen Armee offengelegt worden, die sich schon bei den katastrophalen Niederlagen im Frühjahr vor Kiew und vor wenigen Wochen im Raum Charkiw gezeigt haben.

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Das sind tiefsitzende Probleme, die nicht innerhalb kurzer Zeit behoben werden können. Zudem werden die russischen Streitkräfte trotz der Teilmobilisierung nicht kurzfristig die gewaltigen Verluste an Material und professionellem Personal kompensieren können, die sie in den vergangenen Monaten erlitten haben. Eliteeinheiten wie die 1. Gardepanzerarmee sind schwer dezimiert, die nun eilends und teilweise unter Zwang rekrutierten neuen Soldaten werden nicht problemlos in die russischen Einheiten an der Front integriert werden können. Diese Männer sind nur unzureichend ausgebildet und nichts anderes als Kanonenfutter. Lesen Sie auch:Putin spaltet die Ukraine: Wird der Krieg noch schlimmer?

Russland: Putin wähnt sein Land im Krieg gegen den westlichen Liberalismus

Jan Jessen, Politik-Korrespondent.
Jan Jessen, Politik-Korrespondent. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Sollten die ukrainischen Streitkräfte weiterhin in der Initiative bleiben und vor dem Winter Geländegewinne auch in der Region Luhansk machen können, wird das dem russischen Volk noch deutlicher vor Augen führen, wie sinnlos und selbstmörderisch der von ihrem Machthaber angezettelte Angriffskrieg ist.

Das Problem ist: Putin führt längst keinen Krieg mehr, in dem es allein um geostrategische Erwägungen geht. Das hat seine Blut-und-Boden-Rede anlässlich der Annexionen der vier ukrainischen Regionen deutlich gezeigt. Der russische Präsident und Teile der politischen Elite des Landes wähnen sich in einem existenziellen Kampf gegen den westlichen Liberalismus, der als Ziel die Zerstörung Russlands und seiner Werte habe. Wenn Putin die USA des Satanismus bezichtigt, hat das beunruhigend pathologische Züge; es besteht wenig Hoffnung, dass sich auf dieser Grundlage zielführende Friedensverhandlungen führen lassen.

Wie weit Putin den von ihm begonnenen Krieg eskalieren lassen wird, ist offen. Der Einsatz taktischer Atomwaffen, den beispielsweise der tschetschenische Präsident Kadyrow fordert, ist jedoch unwahrscheinlich. Die Konsequenzen für Russland wären verheerend, das wissen auch die russischen Militärs. Insofern sollte der Westen seine militärische Unterstützung für die Ukraine ausbauen. Je mehr Niederlagen die russischen Streitkräfte hinnehmen müssen, desto mehr wird die Unterstützung in der Heimat schwinden. Es scheint momentan die einzige Option zu sein, diesen Krieg schnell zu beenden.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.