Berlin. Der ukrainische Präsident wurde vom Komiker zum Freiheitshelden. Für Wladimir Putin ist er der Todfeind. Werden sie trotzdem miteinander reden?

Wolodymyr Selenskyj schwebt in höchster Todesgefahr. Wladimir Putins Killertruppen machen Jagd auf den ukrainischen Präsidenten. Mehrere Attentatsversuche hat es nach Angaben des Nationalen Sicherheitsrats schon gegeben, ein tschetschenisches Mordkommando wurde demnach „eliminiert“. Doch sollen auch Söldner der berüchtigten „Gruppe Wagner“ hinter Selenskyj sein. Aber der 44-Jährige scheint keine Angst zu haben. Im olivgrünen Militärshirt, mit Dreitagebart und Schatten unter den Augen spricht Selenskyj seinen Landsleuten täglich Mut zu: „Ich verstecke mich nicht, ich bleibe in meinem Büro. Und ich habe Angst vor niemandem“, erklärt er in einer der vielen Videobotschaften an sein Volk.

Seine Frau Olga und die beiden Kinder Alexandra und Kyrill hat er in der Ukraine in Sicherheit gebracht, aber Selenskyj selbst hält sich weiter in Kiew auf, zum Teil auch im Präsidentenpalast, wo er sogar ab und an unter ungewöhnlichen Umständen Journalisten empfängt. Er schlafe sehr wenig, trinke „extrem viel Kaffee“, führe viele Gespräche, berichtet er. US-Präsident Joe Biden hatte ihm angeboten, ihn in Sicherheit zu bringen, doch Selenskyj winkte ab: „Der Kampf ist hier. Ich brauche Munition und keine Mitfahrgelegenheit“. Die Amerikaner hätten ihn da falsch eingeschätzt, er bleibe bei seinem Volk, sagte der Präsident. Die Welt schaut ihm dabei zu – und bewundert einen Mann, der vom Komiker zum Politiker wurde und der nun über sich hinauswächst zu einem couragierten Staatsmann. Als Identifikationsfigur der Ukrainer ist er zum Symbol von Freiheit und mutigem Widerstand geworden.

Auch US-Schauspieler Sean Penn bewundert Selenskyj

Wo immer Selenskyj in diesen Tagen seine Videoansprachen hält, ist ihm stürmischer Beifall sicher. Im britischen Unterhaus trug er eine Rede vor, die streckenweise absichtlich klang wie die berühmte Ansprache des britischen Premierministers Winston Churchill im Zweiten Weltkrieg („We will never surrender“). „Wir werden bis zum Ende kämpfen“, sagte Selenskyj, „koste es, was es wolle“. Die Ukraine werde nicht aufgeben und nicht verlieren. Im EU-Parlament erklärt er den Abgeordneten, die Ukrainer würden gerade für die europäischen Ideale sterben.

Zum Abschied sagte er: „Dies könnte das letzte Mal gewesen sein, dass sie mich lebend gesehen haben.“Der US-Schauspieler Sean Penn, der wegen des Krieges Dreharbeiten in der Ukraine abbrechen musste und zu Fuß über die polnische Grenze flüchtete, traf Selenskyj vorher noch zum Gespräch: „Ich weiß nicht, ob der Präsident es weiß, aber er ist für sein Amt geboren“, erzählte Penn später tief beeindruckt und schwärmte von Selenskyj „Courage, Würde und Liebe“.

Die beiden waren einmal Kollegen: Der ukrainische Präsident war lange Jahre – nach einem Jura-Studium – erfolgreicher Comedian, Schauspieler und Filmproduzent. Man konnte dem 1,73 Meter großen Künstler in der ukrainischen Version von „Let´s Dance“ zusehen, 2015 spielte er in der satirischen Fernsehserie „Diener des Volkes“ ausgerechnet den Geschichtslehrer Holoborodko - der aus Wut über die Korruption der Politiker für das Präsidentenamt kandidiert und gewählt wird.

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Auch in den Pandora-Papers tauchte Selenskyj auf

Aus dem Film wurde Realität: Der preisgekrönte Unterhaltungsstar wechselte 2019 ins Präsidentenamt. Mit 73 Prozent der Stimmen besiegte er haushoch den „Schokoladen-Milliardär“ Petro Poroschenko nach einem ungewöhnlichen Wahlkampf, in dem Selenskyj ankündigte, als Quereinsteiger werde er den Kampf mit den Oligarchen aufnehmen.

Allerdings wurde er 2021 mit peinlichen Enthüllungen einer internationalen Journalisten-Gruppe konfrontiert: Die „Pandora Papers“ belegten, dass Selenskyj selbst Millionengelder, die er vom Oligarchen Igor Kolomoiski erhalten hatte, in Offshore-Firmen etwa auf den Britischen Jungferninseln geparkt hatte. Kolomoiski kontrolliert eine Medienholding, für den Selenskyj Serien produzierte, und er unterstützte auch den Wahlkampf des Präsidentenkandidaten; die USA haben den schillernden Oligarchen auf eine Sanktionsliste gesetzt und ihm die Einreise verboten. Als Präsident hatte Selenskyj mit schwindender Beliebtheit zu kämpfen, seine Personalpolitik war umstritten, innenpolitisch nahm die Instabilität zu.

Und nun die erneute Wandlung. Zum Staatsmann und obersten Feldherren der Ukraine. Sein Mut und sein Durchhaltewille, gemischt mit Bodenständigkeit ohne Starallüren, machen ihn in der Ukraine extrem populär. Seine Botschaften sind klar: Die Ukraine werde nicht aufgeben. Und: „Wir werden jeden bestraften, der in diesem Krieg Gräueltaten begangen hat.“ Und jeden „Abschaum“, der Raketen abgeschossen habe: „Du wirst keinen ruhigen Ort finden – außer einem Grab.“

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (Mitte) inspiziert während eines Besuchs bei der ukrainischen Küstenwache in der Region Donezk in der Ostukraine Mitte Februar Waffen
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (Mitte) inspiziert während eines Besuchs bei der ukrainischen Küstenwache in der Region Donezk in der Ostukraine Mitte Februar Waffen © dpa | --

Doch in die Überlebensbotschaften mischen sich zunehmend auch schwere Vorwürfe an den Westen. Dass Europa und die USA die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine ablehnen, keine Kampfjets schicken wollen und auch kein Öl- und Gasembargo gegen Russland verhängen, erzürnt den Präsidenten: „Wie viele Tote braucht ihr noch, um unseren Himmel zu sichern?“, schimpft er an die Adresse der Nato. Das Bündnis habe Angst vor einer Konfrontation mit Russland, klagt er, auf Knien werde er nicht um einen Beitritt betteln. Oder: „Man kann es Embargo nennen oder einfach Moral, wenn man sich weigert, Terroristen Geld zu geben.“ Ist es nur Ungeduld, die Selenskyj treibt? Oder baut er schon vor?

Selenskyj ist Putins Todfeind: Erreichen sie trotzdem Frieden?

Selenskyj weiß, dass die schwerste Aufgabe erst noch auf ihn wartet. Der tapfere, mutige Widerstand der Ukrainer, den er anführt, wird angesichts der militärischen Übermacht Russlands womöglich nicht ewig halten. Der Präsident muss versuchen, eine friedliche Lösung zu verhandeln, die der Ukraine schmerzhafte Zugeständnisse abverlangen wird. Heldenmut verlangt auch das. Den Weg bereitet der Präsident schon vor: Er sei bereit zu Gesprächen über den Status der Separatistengebiete im Osten des Landes und über einen neutralen Status der Ukraine, hat Selenskyi angekündigt. Vom Ziel einer Nato-Mitgliedschaft, das sogar in der Verfassung verankert ist und für Putin angeblich einer der Hauptgründe für den Überfall war, hat sich der Präsident praktisch schon verabschiedet - weil die Nato offenbar nicht bereit sei, „die Ukraine zu akzeptieren“.

Wie eine Lösung aussehen könnte, müssten Kiew und Moskau auf höchster Ebene aushandeln, Er wolle in Verhandlungen einen Weg zum Frieden finden, sagt Selenskyj. Er drängt bereits auf ein persönliches Treffen mit Putin. „Was Präsident Putin tun muss, ist ein Gespräch zu beginnen“. Es wird die Begegnung mit einem Feind, der ihn ganz oben auf eine Todesliste setzen ließ, ihn als Neonazi und Drogenabhängigen beschimpft. Er sei das „Ziel Nummer eins“ der russischen Kriegsführung, sagt Selenskyj, „und meine Familie ist das Ziel Nummer zwei.“

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