Berlin. Russische Regimekritiker suchen in Deutschland Schutz. Sie sind zerrissen zwischen der Liebe zu ihrem Land und Scham über Putins Krieg.

Arshak Makichyan ist in Sicherheit. Er sitzt in einem beschaulichen Café im Zentrum von Berlin. Aber Ruhe findet er trotzdem nicht. „Seit dieser Krieg begonnen hat, haben wir kein normales Leben mehr“, sagt der russische Klimaaktivist mit armenischen Wurzeln.

Wir – das sind er und seine Frau Polina. Am 24. Februar, dem Tag ihrer Hochzeit, überfällt Russland die Ukraine. Panzer rollen im Nachbarland ein. Dem Gründer der „Fridays for Future“-Bewegung in Russland wird schnell klar, was diese neue Situation für ihn und seine Frau bedeutet. Die Klimabewegung gilt als Opposition. Und auch Polina hatte sich in der Vergangenheit an Aktionen gegen Präsident Wladimir Putin beteiligt. Das frisch verheiratete Paar ist in Gefahr.

Arshak Makichyan ist mit seiner Frau Polina nach Berlin geflohen. In Russland fürchtete das Paar, jederzeit verhaftet zu werden.
Arshak Makichyan ist mit seiner Frau Polina nach Berlin geflohen. In Russland fürchtete das Paar, jederzeit verhaftet zu werden. © FUNKE Foto Services | Jörg Krauthöfer

Ukraine-Krieg: Russische Regimekritiker in ständiger Angst

Schon am Tag drauf werden Arshak und Polina in Moskau von der Polizei vorübergehend festgenommen. In der Zeit danach sei die Lage unerträglich geworden, erzählt der 27-Jährige, der unter Klimaaktivisten weltweit eine gewisse Bekanntheit genießt. „Die Situation wurde immer schlimmer.“ Täglich hätten sie damit gerechnet, dass die Polizei die Wohnung durchsucht oder einen von ihnen mitnimmt. Ein Leben in ständiger Angst.

Arshak war schon einmal für sechs Tage in Haft, Ende 2019 war das. Damals war er gerade von der UN-Klimakonferenz in Madrid zurückgekehrt. Sein Einsatz für das Weltklima macht ihn zum Verdächtigen in seinem Heimatland, das sich vor allem über Gas- und Ölexporte finanziert.

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Russland: Irgendwann waren die Einschüchterungen zu viel

Seit dem Einmarsch in der Ukraine gingen die russischen Sicherheitskräfte noch hemmungsloser gegen Leute vor, die anders denken, erzählt Arshak. „Wenn sie mich verhaften wollen, finden sie viele Gründe“, sagt er trocken. „In Russland gibt es kein Gesetz.“ Irgendwann seien die Einschüchterungen aber zu viel geworden.

Am 19. März fliehen Arshak und Polina ins Ausland – wie so viele russische Regimekritiker und unabhängige Medienschaffende seit dem Überfall auf die Ukraine. Über Weißrussland und Polen kommt das Paar mit Touristenvisa nach Berlin. „Zuerst wollte ich Russland nicht verlassen. Denn wenn man das tun, verliert man das Spiel gegen Putin. Und ich will nicht, dass er gewinnt“, sagt Arshak mit einem bitteren Lächeln. Aber dann ging er doch.

Bei Rückkehr wahrscheinlich in Haft

In Deutschland haber er jedoch manchmal das Gefühl, dass er nach Moskau zurückkehren müsse. In Berlin könne er wenig bewirken, fühle sich passiv. „Und ich schäme mich zugleich für mein Land, das ich so liebe“, sagt Arshak.

Andererseits: Bei einer Rückkehr nach Russland lande er wahrscheinlich in Haft. Denn er habe den Krieg als Krieg bezeichnete und nicht wie vorgeschrieben als „Spezialoperation“. Er habe internationale Sanktionen gegen Russland gefordert und ein Embargo für fossile Brennstoffe. Das seien „gleich mehrere Straftaten“.

Angst um sich und um ihre Familie in Russland

Scham empfindet auch Maria wegen des russischen Krieges gegen die Ukraine. Ihren vollen Namen will die ehemalige Journalistin aus Sankt Petersburg nicht öffentlich preisgeben. Sie hat Angst um sich und um ihre Familie in Russland. Die 31-Jährige sagt: „Ich weiß nicht, wie viele Jahre unsere Nation brauchen wird, um die Schande dieses Krieges abzuwaschen.“

Die Nachrichten von den Tausenden Toten in der Ukraine brächen ihr das Herz. „Russland hat sich sehr schnell in eine Art faschistische Diktatur entwickelt.“ Das sei der Grund, warum sie ihr Land verlassen habe. „Ich kann nicht in einem totalitären Staat leben. Russland hat die Chance verpasst, ein modernes, demokratisches Land zu sein.“

Die russische Journalistin Maria: Auch sie hat Angst, will unerkannt bleiben. Die Nachrichten von den vielen Opfern des Krieges in der Ukraine brächen ihr das Herz, sagt sie.
Die russische Journalistin Maria: Auch sie hat Angst, will unerkannt bleiben. Die Nachrichten von den vielen Opfern des Krieges in der Ukraine brächen ihr das Herz, sagt sie. © FUNKE Foto Services | Jörg Krauthöfer

Viel Verständnis und Hilfsbereitschaft

Ende März floh Maria über Finnland nach Berlin und kam dort bei ihrem deutschen Freund unter. Da ihr Vater aus dem Baltikum stammt, hat Maria auch einen EU-Pass. Das sei ihre großes Glück. Sie könne in Deutschland bleiben, solange sie wolle.

Sie stoße hier auf sehr viel Verständnis und Hilfsbereitschaft. Eine 20 Kilo schwere Tasche ist alles, was sie aus Sankt Petersburg mitgenommen hat. Den Rest hat sie verschenkt oder verkauft. „Mein ganzes früheres Leben ist verschwunden – ich muss von vorne anfangen“, sagt Maria.

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Journalismus „irgendwann einfach zu gefährlich“

In Russland arbeitete Maria zuletzt als Werbetexterin. Ihren Job als freie Journalistin hatte sie bereits einige Monate vor Kriegsbeginn aufgegeben. Dabei war der Beruf über Jahre hinweg ihre Leidenschaft. Maria schrieb unter anderem für die russischen Zeitungen „Kommersant“, „Novaja Gazeta“ und für die Online-Zeitung „Dailystorm.ru“. Sie berichtete über die politischen Proteste in Russland, aber auch über Obdachlosigkeit, Drogenabhängigkeit und Tierrechte.

„Aber irgendwann wurde es einfach zu gefährlich.“ Viele ihrer Journalistenkollegen hätten Probleme mit der Geheimpolizei bekommen oder seien in Haft gekommen. „Es wurden immer mehr.“ Maria beschloss, sich nach einem anderen Beruf umzuschauen. „Ein echter Journalist in Russland zu sein, ist heutzutage illegal.“

Staatliche „Propagandajournalisten“ zählten für sie nicht. Das seien Menschen, die vor allem eine gut bezahlte Arbeit wollten. „Diese Leute wissen, dass es eine Lüge ist, was sie im Fernsehen sagen.“ Umso mehr bewundere sie Marina Owsjannikowa, die im Staatsfernsehen ein Antikriegsplakat in die Kamera hielt. „Als ich sie sah, dachte ich – wie viel Mut!“ Sie könne ein Vorbild für andere im Regierungsapparat sein.

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    Verwandte glauben lieber der Propaganda

    In der eigenen Familie trifft Maria dagegen auf wenig Verständnis. Die meisten Verwandten schauten russisches Propagandafernsehen und unterstützen Putin. Maria erzählt, nach Kriegsbeginn habe ihre Mutter sie aufgefordert, schnell zurück nach Russland zu kommen. Es sei zu gefährlich bei „den Nazis“ im Westen.

    „Vor allem ältere Menschen sitzen acht oder zehn Stunden am Tag vor den Fernsehern. Sie werden einer kompletten Gehirnwäsche unterzogen.“ Deshalb hielten viele den Krieg für eine gute Idee. „Sie werden durch Propaganda vergiftet.“ Es sei sinnlos, diese Menschen umzustimmen. „Ich habe einen kollektiven Wahnsinn erlebt.“ Mit ihrer Familie spreche sie nicht mehr über Politik. „Sonst verliere ich sie.“

    „Der Westen finanziert den Krieg“

    Von Deutschland erwarten sich sowohl Maria wie Arshak eine harte Gangart gegen Russland. „Das ganze Geld, das der Westen für russisches Gas und Öl bezahlt, wird zur Finanzierung des Krieges verwendet“, sagt Maria. Das müsse so schnell wie möglich aufhören. Arshak wird deutlicher: „Ich fühle mich von westlichen Politikern verraten, weil sie Putin weiterhin unterstützen, indem sie seine fossilen Brennstoffe kaufen.“

    Deutschland müsse mehr Verantwortung übernehmen. „Es hatte diese Geschichte der Diktatur und sollte daher alles tun, um Putin zu stoppen.“ Etwa durch ein Energieembargo.

    Nach Geigespielen schon lange nicht mehr zumute

    Wie es für Arshak und Maria jetzt weitergeht, wissen sie nicht genau. Maria will Deutsch lernen und eine Arbeit finden, vielleicht bei einem russischsprachigen Medium in Berlin. Und sie möchte ukrainischen Flüchtlingen in Deutschland helfen.

    Für sie als Russin sei es eine Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen. Arshak, der eigentlich Violinist ist und am Moskauer Konservatorium seine Ausbildung erhielt, überlegt, seine Geige zu verkaufen. Vom Erlös könne er sich für eine Weile über Wasser halten. Nach Geigespielen sei ihm ohnehin schon lange nicht mehr zumute.

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