Berlin. Die russische Armee hat Europas größtes AKW angegriffen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht von „Nuklear-Terror“.

  • Russische Truppen haben das Atomkraftwerk Saporischschja angegriffen
  • Bei dem Gefecht entstand ein Brand, der gelöscht werden konnte
  • Lesen Sie hier, welche Gefahr nun von dem Kernkraftwerk in der Ukraine ausgeht

Das größte Atomkraftwerk Europas nahe der ukrainischen Stadt Saporischschja ist in der Nacht zum Freitag Ziel russische Angriffe worden. Nach Angaben der ukrainischen Seite schossen russische Truppen einen Teil der Anlage in Brand. Inzwischen sei das Feuer gelöscht. Die internationale Gemeinschaft reagiert alarmiert. Die wichtigsten Fragen und Antworten zu dem Vorfall:

Angriff auf Atomkraftwerk: Was ist in Saporischschja passiert?

Ukrainische Behörden meldeten in der Nacht zum Freitag, dass das Atomkraftwerk Saporischschja im Süden der Ukraine von russischen Truppen angegriffen werde. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von einem gezielten Beschuss durch russische Panzer und warf Russland „Nuklear-Terrorismus“ vor. Videobilder eines Live-Feeds im Internet zeigten Explosionen und Rauchwolken über der Atomanlage.

In einem Gebäude für Ausbildungszwecke auf dem Gelände brach bei dem Angriff Feuer aus, die Reaktorblöcke waren nicht betroffen. Laut den ukrainischen Behörden ist der Brand inzwischen gelöscht. Es habe dabei keine Toten oder Verletzten gegeben, teilte das ukrainische Innenministerium am Freitagmorgen auf Twitter mit.

Atomkraftwerk: Wie ist die Lage in Saporischschja aktuell?

Nach Angaben Kiews hat die russische Armee das Gelände des Kraftwerks besetzt. Die ukrainische Atomaufsichtsbehörde teilte mit, dass kein Leck festgestellt worden sei. Es seien keine Veränderungen in der radioaktiven Strahlungsbelastung registriert worden. „Das Betriebspersonal kontrolliert die Energieblöcke und gewährleistet deren Betrieb“, hieß es am Freitag.

In Betrieb ist demnach aktuell nur eine von sechs Reaktoren im Kraftwerk. Reaktor 1 ist laut Behörden abgeschaltet, die Reaktoren 2, 3, 5 und 6 werden gekühlt. Strahlung wurde durch den Angriff nicht freigesetzt: IAEA-Chef Rafael Grossi sagte am Freitag, die Sicherheitssysteme der sechs Reaktoren seien „in keiner Weise beeinträchtigt“. Auch das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) hat „bislang keinen Hinweis auf eine freigesetzte erhöhte Radioaktivität durch das ukrainische AKW“.

Tony Irwin, australischer Nuklearexperte und Honorarprofessor an der Australian National University in Sydney, wies daraufhin, dass Druckwasserreaktoren wie die Saporischschja eine Schutzhülle hätten, die sie vor Feuer schütze und die den Austritt von Strahlung verhindern würde – anders als das Kraftwerk in Tschernobyl, das 1986 explodierte.

Die Reaktoren in Saporischschja sind derart geschützt, dass sie den Aufprall eines Flugzeugs mit zehn Tonnen Gewicht bei einer Geschwindigkeit von 750 km/h aushalten würden, sagte Uwe Stoll, Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS). Ob dieser Schutz auch für einen direkten Bomben- oder Raketenangriff ausreiche, könne aber nicht beurteilt werden.

Saporischschja: Wie steht der Wind?

Die aktuelle Wetterlage würde voraussichtlich auch in den nächsten 48 bis 72 Stunden keine Luftmassen von dem rund 1400 Kilometer entfernten Reaktor nach Deutschland bringen, sagte Florian Gering, Leiter der Abteilung Radiologischer Notfallschutz beim BfS. Bei einer anderen Wetterlage würden die Luftmassen etwa 2 bis 3 Tage brauchen, um Deutschland zu erreichen. „Angesicht der geografischen Nähe, wäre das Risiko für Russland größer als für Westeuropa und Deutschland.“

Wie gefährlich ist ein Angriff auf ein Atomkraftwerk?

Ein gezielter Angriff auf kerntechnische Anlagen der Ukraine, mit unkalkulierbaren radiologischen Folgen auch für Russland und Belarus, wäre laut Bundesumweltministerium ein unkalkulierbares Verbrechen und in niemandes Interesse, auch nicht im Interesse Russlands.

Wie viele Atomkraftwerke gibt es in der Ukraine?

Saporischschja ist mit fast 6000 Megawatt das größte Atomkraftwerk in Europa und kann etwa vier Millionen Haushalte mit Strom versorgen. Unter normalen Umständen liefert es ein Fünftel des ukrainischen Stroms und fast die Hälfte der Kernenergie des Landes. In

In der Ukraine befinden sich 15 Reaktoren in Betrieb. Alle sind nach Angaben des Bundesumweltministeriums Druckwasserreaktoren vom sowjetischen Typ WWER an vier Standorten: Saporishshja (sechs Blöcke), Riwne (vier Blöcke), Chmelnyzkyj (zwei Blöcke), Südukraine (drei Blöcke).

Hinzu kommen die drei stillgelegten Blöcke des Typs RBMK am Standort Tschernobyl sowie der havarierte Block 4. An diesem Standort befinden sich noch 21.000 abgebrannte Brennelemente der Blöcke 1 bis 3 sowie die brennstoffhaltigen Massen in Block 4.

Warum hat Putin das Atomkraftwerk angegriffen?

Der ehemalige deutsche Brigadegeneral Erich Vad sieht die Besetzung des Kraftwerks nicht als neue Eskalationsstufe, sondern als Vorsetzung der bisherigen russischen Strategie. „Für die russische Armee ist es ein Ziel, mit ihrem Vorrücken kritische Infrastruktur in der Ukraine unter ihre Kontrolle zu bringen“, sagte Vad dieser Redaktion. „Kommunikationsanlagen werden ausgeschaltet, wie wir mit dem Angriff auf den Fernsehturm in Kiew gesehen haben“, fügte der frühere militärpolitische Berater von Ex-Kanzlerin Angela Merkel (CDU).

Bei der Besetzung gehe es aus militärischer Sicht darum, die Anlage zu sichern, sagte Vad. „Ich denke daher nicht, dass Russland ein gezieltes Interesse daran hat, dort eine Nuklearkatastrophe auszulösen.“

Wie reagiert die Nato?

Die Nato hat alarmiert auf die Berichte zu der Kernkraftanlage reagiert. „Das demonstriert die Rücksichtslosigkeit dieses Kriegs“, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Freitag am Rande eines Sondertreffens der Außenminister der Bündnisstaaten in Brüssel. Stoltenberg forderte ein Ende des Kriegs: Russland müsse all seine Truppen zurückziehen und sich in diplomatische Bemühungen einschalten.

Sollten Bürger jetzt Jodtabletten einnehmen?

Das Bundesamt für Strahlenschutz rät von einer selbstständigen Einnahme von Jodtabletten dringend ab. „Eine Selbstmedikation mit hochdosierten Jodtabletten birgt erhebliche gesundheitliche Risiken, hat aktuell aber keinen Nutzen.“ Die Einnahme von Jodtabletten verhindern, dass sich radioaktives Jod nicht in der Schilddrüse ansammeln kann. Aktuell bewegen sich alle radiologischen Messwerte an dem ukrainischen Kraftwerk im normalen Bereich.

Wie kommt man im Notfall an Jodtabletten?

In Deutschland sind 189,5 Millionen Jodtabletten (Kaliumiodid-Tabletten) in den Bundesländern bevorratet. Diese werden bei einem Ereignis, bei dem ein Eintrag von radioaktivem Jod in die Luft zu erwarten ist, in den möglicherweise betroffenen Gebieten durch die Katastrophenschutzbehörden verteilt. Die vorrätigen Tabletten werden in Schachteln zu je 4 Stück abgegeben.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.