Berlin. Die Eroberung des Donbass war das erklärte Kriegsziel Moskaus. Doch Militärexperten glauben nicht, dass dies dem Kremlchef reicht.

Juri Uschakow ist kein Mann, der gerne lacht. Meist schaut er griesgrämig drein, fixiert sein Gegenüber mit durchdringendem Blick, die Mundwinkel hängen dann leicht nach unten. Doch der außenpolitische Berater von Russlands Präsident Wladimir Putin gehört zum inneren Zirkel und hat das Ohr seines Chefs.

Der Ukraine macht Uschakow keine großen Hoffnungen. Sollte es zu einer Wiederaufnahme von Friedensgesprächen mit Russland kommen, würde Moskau wesentlich härter auftreten als noch beim bilateralen Treffen Ende März in Istanbul. „Wenn jetzt also die Verhandlungen wieder aufgenommen werden, dann zu völlig anderen Bedingungen“, drohte Uschakow – ohne Einzelheiten zu nennen.

„Politisch Impotente“: Ex-Kremlchef Medwedew schimpft gegen EU und USA

In der Türkei hatte Russland in Aussicht gestellt, die militärischen Aktivitäten rund um Kiew „radikal“ zu verringern. Die ukrainischen Vertreter hatten wiederum signalisiert, dass für sie ein neutraler Status vorstellbar sei. Voraussetzung: Staaten wie die Türkei, Kanada, Polen oder Israel würden die Sicherheit des Landes garantieren.

Noch schärfer ist die Tonlage beim früheren Kremlchef Dmitro Medwedew. Dieser machte klar, dass de facto nur ein Diktatfrieden Moskau zur Einstellung der Kampfhandlungen bewegen werde. „Russland erreicht alle gesetzten Ziele. Und es wird Frieden geben. Zu unseren Bedingungen“, polterte der Vizechef des russischen Sicherheitsrats. Eine Einigung zu den Bedingungen der „politisch Impotenten“ in der EU und in den USA sei nicht möglich, fügte er hinzu.

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Russischer Verteidigungsminister Schoigu befiehlt Verstärkung der Attacken

Medwedews Rhetorik wurde in den letzten Wochen immer schriller. Beobachter in Moskau vermuten, dass er sich dadurch Putins Gunst erwerben oder auch als potenzieller Nachfolger Aufmerksamkeit verschaffen will.

Die verbalen Muskelspiele wurden durch den russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu noch verstärkt. Der Vertraute von Putin hatte bei einem Besuch der eigenen Truppen eine „Ausweitung der Aktivitäten der Heeresgruppen in alle Angriffsrichtungen“ befohlen. Die Armee solle im Donbass gezielt ukrainische Raketen und Artillerie ins Visier nehmen. Es ist erklärtes Ziel Moskaus, die Region wie zuvor das benachbarte Gebiet Luhansk komplett der ukrainischen Kontrolle zu entreißen.

In Odessa wurden bei einem Raketenangriff mindestens vier Menschen verletzt

Die russischen Streitkräfte attackierten in der Nacht zum Dienstag weiter Städte in der gesamten Ukraine. Mehr als 150 Bomben und Granaten seien auf die Region Sumy abgefeuert worden, erklärt Dmytro Schywytzki, Leiter der ukrainischen Militärverwaltung der Region. „Sie feuerten Mörser, Kanonen- und Raketenartillerie ab. Die Russen eröffneten auch das Feuer mit Maschinengewehren und Granatwerfern.“

Im Visier russischer Raketen: Ein großes Loch klafft in einem Gebäude in der südukrainischen Stadt Mykolajiw nach einer Bombardierung der Stadt durch die russischen Streitkräfte.
Im Visier russischer Raketen: Ein großes Loch klafft in einem Gebäude in der südukrainischen Stadt Mykolajiw nach einer Bombardierung der Stadt durch die russischen Streitkräfte. © dpa | Hector Adolfo Quintanar Perez

Auch die Stadt Mykolajiw im Süden der Ukraine stehe unter Beschuss mit Streugeschossen, wie der Bürgermeister der Stadt, Oleksandr Senkewytsch, mitteilt. Mindestens zwei Menschen seien verletzt, Fenster und Dächer von Privathäusern beschädigt. In Odessa seien bei einem russischen Raketenangriff mindestens vier Menschen verletzt worden, Häuser seien niedergebrannt, berichtet ein Sprecher der Regionalverwaltung.

„Das politische Ziel, die Ukraine als Ganzes zu vernichten, steht nach wie vor“

Geht es Putin tatsächlich nur um den Donbass und den Süden einschließlich der Krim? Militärexperten in Deutschland prognostizieren, dass sich Putin nicht auf den Donbass beschränken will. „Das politische Ziel, die Ukraine als Ganzes zu vernichten und sich einzuverleiben, steht nach wie vor“, sagte Gustav Gressel von der Berliner Denkfabrik Council on Foreign Relations unserer Redaktion. „Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Russland derzeit eine operative Pause einlegt. Die Feuerwalze sucht sich neue Ziele.“

Allerdings stehe den Russen im September/Oktober eine kritische Zeit bevor, unterstreicht der Osteuropa-Experte. Dann werde die nächste Rotation russischer Truppen fällig, weil viele Verträge mit Zeitsoldaten ausliefen. „Diese Schwächephase, in der alte Soldaten raus und neue reinkommen, wird gern von der Ukraine für Gegenangriffe genutzt“, so Gressel.

Ex-Bundeswehrgeneral Domröse warnt vor einem Afghanistan-Szenario

Der ehemalige Bundeswehrgeneral Hans-Lothar Domröse sieht es ähnlich. „Gemessen an Putins strategischem Ziel reicht ihm die Eroberung des Donbass nicht“, sagte Domröse unserer Redaktion. „Meine Befürchtung: Wenn Putin nicht die gesamte Ukraine bekommt, zielt er auf Dnipro, Saporischja, Cherson und am Ende Odessa ab. Er will die Ukraine vom Wasser abschneiden. Wenn Putin das gelänge, wäre die Ukraine in einer geografisch eingeschlossenen Lage wie Afghanistan.“ Domröse rechnet aber damit, dass die Ukraine mit westlicher Hilfe Odessa halten könne.

Entscheidend ist aber: Der russische Präsident hat seine Leitplanken nicht aufgegeben. Er will die Ukraine „entwaffnen“ und „entnazifizieren“. Letzteres ist ein Codewort für die Einsetzung eines moskaufreundlichen Satellitenregimes in Kiew.

Putin hat es bereits formuliert: Russen, Ukrainer und Belarussen seien „ein Volk“

Putin hat seine imperialen Ambitionen mehrfach formuliert. Im Juli 2021 veröffentlichte er einen Essay „über eine historische Einheit von Russen und Ukrainern“. Eine der Kernbotschaften: Die drei ostslawischen Bevölkerungsgruppen – Russen, Ukrainer, aber auch Belarussen – seien „ein Volk“. Dieses Volk sei nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 getrennt worden. Heute werde die Ukraine vom Westen gesteuert, um Russland zu schwächen.

Putin will eine demokratische und wirtschaftlich florierende Ukraine unter allen Umständen verhindern. Sie wäre ein westliches Gegenmodell zu Russland, das auch bei den eigenen Bürgern Strahlkraft erlangen könnte. Das wiederum würde Alarmstufe Rot für Putins Macht bedeuten.

Hoffnungen auf einen Waffenstillstand dürften sich als Illusion erweisen

Weiteres Indiz für die Unbeugsamkeit des Kremlchefs: Im Juni verglich er sich mit Zar Peter dem Großen. Peter I. habe im Großen Nordischen Krieg Anfang des 18. Jahrhunderts das Gebiet um die heutige Stadt St. Petersburg nicht von Schweden erobert, sondern zurückgewonnen. „Offenbar ist es auch unser Los: Zurückzuholen und zu stärken“, unterstrich er mit offensichtlich beabsichtigter Parallele zum Ukraine-Krieg.

In Deutschland keimt gelegentlich die Hoffnung auf, dass ein Waffenstillstand der Auftakt für eine Beendigung des Krieges zwischen Russland und der Ukraine sein könnte. Der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich und auch der militärpolitische Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), der ehemalige Brigadegeneral Erich Vad, hatten sich so geäußert.

Der Wunsch dürfte sich als Illusion erweisen. Sollte Putin eines Tages tatsächlich Bereitschaft zu einer Feuerpause signalisieren, ist ein definitiver Stopp der Kämpfe dennoch unwahrscheinlich. „Es wäre ein taktischer Zug, um Zeit für die Regeneration der russischen Truppen zu bekommen“, bilanziert Carlo Masala von der Hochschule der Bundeswehr in München. Der Krieg würde nach einer Atempause weitergehen.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.