Berlin. Industriepräsident Russwurm fürchtet um die Energieversorgung aus Russland - und macht nun einen Vorstoß zur Arbeitszeitverlängerung.

  • Habeck appelliert, die Bundesnetzagentur ist besorgt: Mit der Versorgungslage in Deutschland steht es nicht zum Besten
  • Auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) zeigt sich alarmiert
  • Auch die hohe Inflation bereitet Sorgen
  • BDI-Präsident Russwurm äußert dazu einen Vorschlag

Dreht Putin den Deutschen den Gashahn zu? Die Lieferungen aus Russland sind schon gedrosselt. Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), richtet im Interview mit unserer Redaktion einen dramatischen Appell an die deutsche Politik, sich auf einen Gas-Stopp einzustellen. Die Atomkraft spielt in seinen Überlegungen keine große Rolle mehr.

Wie wirken sich vier Monate Krieg in der Ukraine auf die deutsche Wirtschaft aus?

Siegfried Russwurm: Die russische Invasion macht dieses Jahr auch wirtschaftlich extrem herausfordernd. Der Krieg schwächt das Wirtschaftswachstum erheblich. Es gibt Branchen wie Glas-, Keramik- oder Stahlindustrie, die ganz unmittelbar leiden, in etlichen anderen Bereichen hat das erhebliche Folgeeffekte. Die Unternehmen passen sich an die Situation an und kämpfen sich durch. In einigen wenigen Branchen läuft es besser, zum Beispiel in der Gesundheitsindustrie.

Die Bundesregierung rechnet für das laufende Jahr noch mit einem Wachstum von 2,2 Prozent – ist das zu optimistisch?

Russwurm: Wir sehen sehr viele Unsicherheitsfaktoren. Versorgungsnetzwerke und Lieferketten sind zum Zerreißen gespannt. Noch immer beschäftigen uns das Coronavirus und seine Folgen – akut durch die fehlgeschlagene Null-Covid-Politik Chinas, perspektivisch in der Sorge vor neuen Virusvarianten.

Rechnen Sie mit einer Rezession?

Russwurm: Wir gehen momentan noch von einer positiven Zahl aus. Aber unsere Erwartungen an Produktion und Exporte fallen geringer aus als zu Jahresbeginn. Es braucht Rahmenbedingungen, mit denen unsere Unternehmen klarkommen – Kosten, Steuern und Abgaben. Die Situation bleibt fragil.

Welche Folgen hätte ein Importstopp für russisches Gas?

Russwurm: Ein Ausfall der russischen Gaslieferungen würde sofort zu massiven Einbrüchen in der Industrieproduktion führen und ganz Europa belasten. Dann wären wir deutlich in den roten Zahlen, was Konjunktur und Beschäftigung angeht.

LandUkraine
KontinentEuropa
HauptstadtKiew
Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
Einwohnerca. 41 Millionen
StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
SpracheUkrainisch
WährungHrywnja

Was erwarten Sie von der Regierung, um die Energieversorgung zu sichern?

Russwurm: Es ist richtig, den Import von Flüssiggas zu ermöglichen, etwa aus Nordamerika oder Katar – und dafür rasch die Infrastruktur an der Küste zu bauen. Außerdem müssen wir den Verbrauch von Gas so stark wie möglich reduzieren, jede Kilowattstunde zählt. Priorität muss sein, die Gasspeicher zu füllen für den kommenden Winter.

Mein Appell ist: Jetzt schon die Gasverstromung stoppen und sofort die Kohlekraftwerke aus der Reserve holen. Wenn die Versorgungslage im Sommer sich tatsächlich so schwierig entwickelt, wie es aktuell wahrgenommen wird, müssen wir diese Option jetzt sofort ziehen.

Denn der Import von Strom aus Nachbarländern hat seine Grenzen. Und ob wir jetzt oder im Winter mehr Kohle verstromen, ist für die CO-Emissionen nicht erheblich, aber so sichern wir uns zumindest höhere Füllstände in den Gasspeichern.

Wie realistisch sind die Pläne der Ampel dann noch, den Kohleausstieg von 2038 auf 2030 vorzuziehen?

Russwurm: Aktuell geht es um kurzfristige Überbrückungsmaßnahmen zur Sicherung der Energieversorgung, nicht um 2038 oder 2030. Ich sage nicht, dass ein Kohleausstieg in diesem Zeitraum völlig außerhalb aller Möglichkeiten wäre.

Die erneuerbaren Energien scheinen für Sie keine besondere Rolle zu spielen.

Russwurm: Ganz im Gegenteil. Auch da müssen wir massiv beschleunigen – jetzt! Zur Sicherung der Versorgung und für die Transformation unseres Landes zum klimaneutralen Industrieland.

Auf welche Erneuerbaren setzen Sie?

Russwurm: Deutschland muss sich endlich von lähmenden Klein-Klein-Debatten und Blockadehaltungen verabschieden und beim Erneuerbaren-Ausbau runter von der Bremse. Politik und Verwaltung müssen schleunigst den Turbo einschalten für die Ausweisung neuer Flächen für Windkraft- und Solarkraftanlagen und für schnellere Genehmigungen. Die Stromerzeugung aus Wind ist die mit Abstand wichtigste Quelle von erneuerbaren Energien in Deutschland.

Die FDP hat die Debatte über längere Atomlaufzeiten neu entfacht. Wie realistisch ist das?

Russwurm: Die Bundesregierung ist in ihrer Prüfung zu dem Schluss gekommen, eine Laufzeitverlängerung bei den verbliebenen drei Meilern lohne sich nicht. Und der Protest der Betreiber gegen diese Aussage war nicht besonders laut. Trotzdem, wenn diese drei Kernkraftwerke Ende des Jahres auch noch vom Netz genommen werden, dann wird der Ausgleichsbedarf noch größer, was kurzfristig bedeutet: mehr Kohle. Das muss jeder bedenken.

Für den Fall von Engpässen in der Energieversorgung: Akzeptieren Sie, dass Privathaushalte weiter beliefert werden sollen, Industriebetriebe aber nicht?

Russwurm: Die Idee, es könne bei der Bundesnetzagentur einen Vorrangschalter für private Haushalte geben, ist falsch. Es gibt keine Erfahrungswerte, wie unser Gasnetz reagiert, wenn wir massiv aus dem Norden und Westen statt aus dem Osten einspeisen. Ich bin mir nicht sicher, wie viel davon im Süden ankommt. Die Physik spricht ein wesentliches Wort mit. Wir sollten alles dafür tun, dass es nicht zu Engpässen kommt.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Wie denken Sie über Fahrverbote und Tempolimits, wie sie die SPD jetzt ins Gespräch gebracht hat?

Russwurm: Ich lebe in einem Dorf mit 600 Einwohnern und habe zu einem Sonntagsfahrverbot eine sehr klare Meinung. Anders als in den 70er Jahren muss man heutzutage für alle möglichen Dinge raus aus dem Dorf. Wenn der Staat der Landbevölkerung sagt, dass sie ihr Dorf am Sonntag nicht mehr verlassen darf, führt das zu nichts Gutem. Energiesparen ja - aber wir brauchen dafür einen gesellschaftlichen Konsens.

Sehen Sie diesen Konsens auch nicht für ein Tempolimit auf Autobahnen?

Russwurm: Die Leute sehen, dass Energie teurer wird - und sind schlau genug, selber zu entscheiden, wie sie sich verhalten, um Energie zu sparen.

Sicher?

Russwurm: Was will der Staat noch vorschreiben? Wie warm die Temperatur im Wohnzimmer sein darf? Die Menschen werden sich aus freien Stücken richtig verhalten, wenn sie sehen, was ihr Energieverbrauch kostet. Und wer es nicht tut, wird einen sehr hohen Preis dafür zahlen müssen.

Nach dieser Logik sind Entlastungen eher hinderlich.

Russwurm:Zielgerichtete Entlastungen für die, die es zwingend brauchen, sind richtig. Aber leider werden die Energiekosten weiter steigen. Es muss klar sein, dass der Staat nicht jede Preissteigerung ausgleichen kann.

Der Tankrabatt verpufft, weil die Mineralölkonzerne sich die Taschen vollmachen.

Russwurm: Die entscheidende Frage ist, welche Konsequenzen man aus der Preisentwicklung zieht. Viele sind darauf angewiesen, mit dem Auto zur Arbeit zu fahren. Für die ließen sich die steigenden Spritpreise sinnvoll über die Entfernungspauschale kompensieren.

Ist es eine böse Unterstellung, dass sich Mineralölkonzerne an der Krise bereichern?

Russwurm: Das weiß ich nicht. Wir sprechen über einen komplexen globalen Markt in einer Krisensituation. Daraus ergeben sich Knappheiten und Kostensteigerungen bei Versorgung, Transport, Weiterverarbeitung. Das alles muss man sauber analysiert und belegt haben, ehe man pauschale und schwerwiegende Verdächtigungen äußert.

Sind Forderungen, Profiteure des Krieges mit einer sogenannten Übergewinnsteuer zu belegen, aus der Luft gegriffen?

Russwurm: Ich tue mich sehr schwer, Gewinn von Übergewinn zu unterscheiden. Wo ist da die Grenze? Ich halte eine moralische Bewertung für schwierig. Gewinne werden in Deutschland bereits hoch besteuert. Und wenn Kartellabsprachen der Grund für Preissteigerungen sind, dann ist das Kartellamt gefordert.

Wirtschaftsminister Habeck will das Kartellrecht ändern. Die Pläne sehen vor, Gewinne abzuschöpfen und notfalls Konzerne zu zerschlagen - beim bloßen Anschein und ohne einen Nachweis von Marktmissbrauch ...

Russwurm: Mein Rechtsverständnis ist: Wenn mir jemand ein widerrechtliches Verhalten vorwirft, dann muss er es nachweisen. Die Zerschlagung von Unternehmen ist das schärfste Mittel, was dem Rechtsstaat zur Verfügung steht. Die Schwelle für den Einsatz dieses Instrumentes noch niedriger zu setzen, um beim bloßen Anschein von Missbrauch reagieren zu können – das würde die Grundfesten unseres Rechtssystems treffen.

Wenn diese Pläne umgesetzt werden - klagen Sie dagegen?

Russwurm: Das ist arg hypothetisch. Fragen um Entflechtungen sind kompliziert und kennen keine einfachen Lösungen. Fast immer landen solche Fragen vor den Gerichten, mit jahrelangen Auseinandersetzungen. Am Ende stehen oftmals horrende Entschädigungssummen, die der Steuerzahler zu bezahlen hat. Das kann niemand wollen, und es hilft in der aktuellen Situation auch niemandem.

Erwartet die Industrie von der Politik neue Entlastungen?

Russwurm: Wir brauchen einen global wettbewerbsfähigen Strompreis. Die Abschaffung der Ökostrom-Umlage genügt nicht. Auch die Stromsteuer und die Netzentgelte müssen deutlich runter. Auf dem Tag der Industrie vor einem Jahr hat Olaf Scholz einen Industriestrompreis von vier Cent pro Kilowattstunde als sinnvoll bezeichnet. Noch immer zahlen Unternehmen bis zu 18 Cent – Tendenz steigend. Wir haben die Aussage des Bundeskanzlers nicht vergessen.

Die Ampel will eher Geringverdiener entlasten. Wie denken Sie über den Vorstoß von Arbeitsminister Heil, ein soziales Klimageld einzuführen?

Russwurm: Sinnvoller als ein Klimageld wäre, den Strompreis für jene Privathaushalte zu senken, die an ihre wirtschaftliche Grenze kommen. Die vielen Abgaben, die den Strompreis belasten, geben dem Staat dafür die Möglichkeit. Aber der Staat kann nicht alle Kostensteigerungen für jeden ausgleichen. Energie wird nicht mehr billiger – zumindest auf absehbare Zeit. Bei allen Unterstützungen, die dauerhaft sein sollen, muss der Staat sich die Finanzierung überlegen. Die Schatzkiste mit beliebig viel Geld hat noch keiner entdeckt.

Um der Inflation zu begegnen, haben Ökonomen eine Verlängerung der Arbeitszeit ins Gespräch gebracht. Wie denken Sie über eine 42-Stunden-Woche?

Russwurm: Wenn die Babyboomer in Rente gehen, geht diesem Land massiv Arbeitskraft verloren, und schon heute fehlen uns an vielen Stellen Arbeitskräfte. Ich habe persönlich große Sympathie für eine optionale Erhöhung der Wochenarbeitszeit – natürlich bei vollem Lohnausgleich.

Haben Sie ähnliche Sympathie für die Rente mit 70?

Russwurm: Eine 42-Stunden-Woche wäre sicherlich leichter umzusetzen als eine allgemeine Einführung der Rente mit 70.