Berlin/Moskau/Kiew. Mit Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj stehen sich im Krieg zwei Präsidenten gegenüber, die unterschiedlicher kaum sein könnten.

Die Pupillen wandern von links nach rechts, hüpfen zurück und beginnen wieder zu wandern. Kaum wahrnehmbar ist das Zucken der Augen, aber der Eindruck vermittelt sich intuitiv. Wie immer, wenn Menschen ohne Übung vom Teleprompter ablesen. Und genau das tut Wladimir Putin in jener Fernsehansprache, die am 21. Februar 2022 weltweit über die Bildschirme flimmert.

Der russische Präsident liest ab und sagt, dass er etwas ausholen müsse. Er beginnt im Mittelalter, dann springt er ins Revolutionsjahr 1917. Beim Zuhören ist es kaum möglich, dem Gedankengang zu folgen. Bis Putin der ukrainischen Führung einen „aggressiven Neonazismus“ vorwirft und ankündigt, die „Volksrepubliken“ im Donbass anzuerkennen.

Eine faktische Kriegserklärung Russlands. Das ist der Tenor in ersten Blitzanalysen. Und wirklich: Drei Tage später marschieren russische Truppen in der Ukraine ein.

Ukraine-Krieg: Putin beruft sich auf Peter den Großen

Doch der verstörende Auftritt des Kremlchefs wirkt nach. Wie er da schief hinter seinem Schreibtisch hockt. Wie er wirr und verwirrend über die Geschichte der Sowjetukraine doziert und sich dabei in Rage redet. „Ist Putin wahnsinnig geworden?“, fragen Medien rund um den Globus und deuten auch das Ambiente des Auftritts.

Neben dem Präsidenten stehen gleich vier Festnetztelefone, die Hörer mit Schnur, so wie auch die Computermaus. Gibt es im Kreml kein Smartphone, kein Bluetooth? Stattdessen prangt auf der russischen Flagge der zaristische Doppeladler, in der Klaue das Reichszepter.

Ist das Wahnsinn? Sicher nicht im pathologischen Sinn. Aber es ist so offensichtlich aus der Zeit gefallen, dass die Gefahr, die davon ausgeht, spürbar ist. Da sitzt ein Mann von 70 Jahren, der sich in bizarre Geschichtsdeutungen hineinsteigert, die sich verfestigt haben und die er auch in seiner Rede zur Lage der Nation ein Jahr später wiederholte. Der sich und sein Land in einer fernen Vergangenheit verortet und im 21. Jahrhundert einen Eroberungsfeldzug führen lässt wie einst die Zaren.

Ukraine: Selenskyj ist jeden Tag präsent, er macht keine Pause

Als Kriegspräsident beruft sich Putin auf Peter den Großen, der vor 300 Jahren mit militärischer Macht das Reich vergrößerte und sich zum „Imperator“ krönen ließ. Allerdings war Peter der Große ein rastloser Modernisierer, ein Westler noch dazu.

Putins Truppen dagegen verlieren in der Ukraine Kampf um Kampf, weil die Armee, das sagen die eigenen Soldaten, „technisch so heruntergekommen ist wie moralisch“.

Und weil auf der anderen Seite ein Mann den Oberbefehl führt, der sich geschmeidig im Hier und Heute bewegt. Einer mit Smartphone, der sich nicht hinter dem Schreibtisch verschanzt, sondern in der zweiten Kriegsnacht hinausgeht auf die Straßen von Kiew und ein Selfievideo dreht.

„Der Präsident ist hier, unsere Soldaten sind hier, wir sind alle hier, um unsere Unabhängigkeit zu verteidigen“, sagt Wolodymyr Selenskyj. Mitte vierzig, mitten im Leben. Wie nebenbei zeigt der ukrainische Präsident, dass die Gerüchte über seine Flucht falsch sind. „Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit“, antwortet er, als die Amerikaner ihn doch lieber außer Landes bringen wollen. Heldenmut muss nicht von gestern sein.

Der erfolgreiche Schauspieler weiß, wie er gut rüberkommt

Natürlich ist auch Show dabei. Selenskyj ist ein erfolgreicher Schauspieler, der genau weiß, wie er seine tiefe Stimme am besten einsetzt und den Blick. Welchen Effekt ein Teleprompter hat und wie freie Rede wirkt. Oder die passende Kleidung. Noch am ersten Kriegstag tauscht er Anzug, Krawatte und Lackschuhe gegen olivgrüne T-Shirts, Militärhosen und Kampfstiefel.

Das einzige, was die verbindet, sind ihre Vornamen: Wladimir Putin (l.) und Wolodymyr Selenkyj. Der russische Wladimir und der ukrainische Wolodymyr haben den gleichen ostslawischen Ursprung.
Das einzige, was die verbindet, sind ihre Vornamen: Wladimir Putin (l.) und Wolodymyr Selenkyj. Der russische Wladimir und der ukrainische Wolodymyr haben den gleichen ostslawischen Ursprung. © AFP | Vladimir Smirnov

Und selbstverständlich kennt Selenskyj seinen Text. Mit geradezu schlafwandlerischer Sicherheit trifft er den richtigen Ton. Ob er sich allabendlich per Video an seine Landsleute wendet, um Trost zu spenden und Mut zu machen, oder sich in die Parlamente in aller Welt zuschalten lässt oder wie neuerdings auch das Land verlässt.

Auf seiner Europa-Reise vor wenigen Tagen behält er das Olivgrün eines Präsidenten im Krieg an, selbst im Buckingham Palast bei der Audienz mit König Charles. Er trifft Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron, spricht vor dem Europaparlament. Auch beim Blitzbesuch des US-Präsidenten in Kiew vor dem Jahrestag des russischen Invasion trägt er keinen eleganten Mantel wie Joe Biden, sondern einen Parka in Tarnfarbe. Der Inhalt zählt, doch die Form kann den Unterschied machen.

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Selenskyj ist überall vor Ort, das stärkt die Moral der Truppe

Vor allem aber ist Selenskyj nicht allein. Er schart Menschen um sich, meist junge Leute, darunter viele Frauen. Er ist ein Teamspieler, kein Selbstherrscher. Moderne Führung, flache Hierarchien: Genau so kämpft auch die ukrainische Armee. Mit erstaunlichem Erfolg. In Kiew, Charkiw und Cherson. Selenskyj ist überall vor Ort. Er besucht Butscha, wo sich nach dem Abzug der Russen die Leichen der Gefolterten stapeln. Und er fährt in das apokalyptisch zerschossene Bachmut.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Wie sehr das die Kampfmoral der Truppe stärkt, ist kaum zu ermessen. Aus dem Donbass nimmt er eine Flagge mit nach Washington, wo er sie im US-Kongress übergibt und erklärt: „Dies ist ein Symbol unseres Sieges. Wir halten stand, weil wir geeint sind. Die Ukraine, Amerika und die gesamte freie Welt.“

Putins Drang zur Vergeltung ist so echt wie Selenskyjs Freiheitswille

Das ist fast schon oscarreif. Der Auftritt entfaltet aber vor allem deshalb eine solche Strahlkraft, weil er echt ist und eben nicht nur Schau. Weil es in der Ukraine wirklich um alles geht: um das nackte Überleben der Menschen, aber auch um die Zukunft der Nation, die Putin vernichten will.

Das gibt der russische Präsident offen zu, und zugleich sagt er den USA und den Europäern den Kampf an: „Woher kommt diese dreiste Art zu sprechen, als wäre man auserwählt, unfehlbar, als wäre einem alles erlaubt?“ So fragt Putin Richtung Westen, als er der Ukraine am 24. Februar den Krieg erklärt. Später kommt er immer wieder darauf zurück. In solchen Momenten wirkt der russische Präsident, als wäre er ganz bei sich. Sein Drang zur Vergeltung ist so echt wie Selenskyjs Freiheitswille.

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Die Präsidenten verbindet nur eins: ihr Vorname

Denn es geht Putin um Revanche, eher sogar um Rache. Auch daraus macht er keinen Hehl. Er will vergessen machen, was der Sowjetunion widerfahren ist und damit zugleich Russland: „Die Lähmung von Macht und Willen führten in den Untergang.“

Immer wieder geht der Blick zurück. Putins Orientierungsmarken liegen in der Vergangenheit. Selenskyj dagegen blickt in eine ersehnte Zukunft, in der eine freie, demokratische Ukraine der EU beitreten soll.

Was die beiden Präsidenten verbindet, ist allein der Vorname. Der russische Wladimir und der ukrainische Wolodymyr haben den gleichen ostslawischen Ursprung. „Groß an Macht“ sollen Menschen dieses Namens sein. Die Bedeutung ist allerdings unscharf. Denn die Macht kann einem „Beherrscher der Welt“ zufallen - oder einem „Fürsten des Friedens“.

LandUkraine
KontinentEuropa
HauptstadtKiew
Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
Einwohnerca. 41 Millionen
StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
SpracheUkrainisch
WährungHrywnja