Berlin/Kiew. US-Präsident Biden besucht die ukrainische Hauptstadt. Bilder zeigen ihn mit Präsident Selenskyj. Der Besuch war bis zuletzt geheim.

Als George W. Bush und Barack Obama mitten in den Kriegen im Irak und Afghanistan am Rande der fernen Schlachtfelder erschienen, konnte das US-Militär aus eigener Kraft für die Sicherheit der obersten Repräsentanten sorgen.

Präsident Joe Biden hatte dieses Privileg nicht, als er am Montagmorgen unter strahlender Sonne vor dem Marien-Palast in Kiew unangekündigt an der Seite des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj erschien. Um, wie er sagte, auch „den Hauch eines Zweifels ausräumen”, dass Amerika es mit seinem Engagement für das von Russland vor einem Jahr angegriffene Land auf Dauer ernst meint.

Biden in der Ukraine: Kreml war offenbar informiert

Die knapp fünfstündige, riskante Blitz-Visite war unter höchster Geheimhaltung konfiguriert worden. Biden verließ Washington am frühen Sonntagmorgen, der übliche Kirchgang am Tag des Herrn blieb aus. Die wenigen mitgereisten Journalisten mussten ihre Handys abgeben und durften erst nach der Ankunft in Kiew erste Berichte absetzen. Wie später aus Regierungskreisen verlautete, kam Biden wie viele Regierungschefs vor ihm nach der Landung in Polen nach rund zehnstündiger Zugfahrt in Kiew an.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von X, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Um potenziell folgenschwere Zwischenfälle in der aktiven Kriegszone zu vermeiden, das bestätigte Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan, wurde der Kreml mehrere Stunden vorher vorab von der Reise informiert. Über Reaktionen, etwa das Versprechen von russischer Seite, Kiew vorübergehend nicht unter Feuer zu nehmen, wurde nichts bekannt. Während Biden und Selenskyj das berühmte Michaels-Kloster mit seinen vergoldeten Kuppeln besuchten, war kurz Luftsirenen-Alarm zu hören.

US-Präsident sendet Signal an Wladimir Putin

Bidens Kiew-Besuch fand statt an dem Tag, an dem die Ukraine des Todes von 100 Menschen gedachte, die bei den Protesten starben, die 2014 zum Sturz der damals pro-russischen Regierung geführt hatten. An der „Mauer der Erinnerung”, wo Fotos von über 4500 ukrainischen Soldaten verewigt sind, die seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim-Halbinsel 2014 durch Russland ums Leben kamen, legten Biden und Selenskyj einen Kranz nieder.

Der Besuch in Kiew war die Ouvertüre zu einem rhetorischen Fern-Duell. Während Biden am Dienstagabend in Polen vor dem Warschauer Königsschloss wie schon im März 20222 erneut ein Plädoyer für die Einheit der Demokratien im Kampf gegen Despotie und Autokratie halten wird, wendet sich Wladimir Putin am Morgen in Moskau in einer Rede an die russische Nation.

Biden lobt Mut der Ukrainischen Bevölkerung

Biden gab bei seiner auffallend warmherzigen Begegnung mit seinem ukrainischen Gegenüber Erinnerungen preis aus seinen ersten Telefonaten mit Selenskyj am Tag des russischen Einmarsches vor fast genau einem Jahr. „Russische Flugzeuge waren in der Luft und Panzer kamen über die Grenze. Du hast mir berichtet, dass Du Explosionen hören konntest. Ich werde das nie vergessen. Du hast mir gesagt, dass Du nicht weißt, wann wir wieder miteinander sprechen können. In dieser dunklen Nacht vor einem Jahr rechnete die Welt buchstäblich mit dem Untergang Kiew, vielleicht sogar mit dem Ende der Ukraine.”

Dann nahm Biden den vorbereiteten Handzettel für einen Moment zur Seite und sprang gedanklich nach vorn. „Ein Jahr danach hält Kiew Stand. Und die Ukraine hält stand. Die Demokratie hält stand. Die Amerikaner stehen mit Euch, und die Welt steht mit Euch.” Mehrmals drückte Biden seine „grenzenlose Bewunderung” für die Entschlossenheit und Wehrhaftigkeit der ukrainischen Nation aus. Alle Menschen, Junge und Alte, Zivilisten und Soldaten, hätten sich „gegen alle Erwartungen” gegen den Eindringling behauptet.

US-Präsident Joe Biden und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Montag vor der St. Michaels-Kathedrale in Kiew.
US-Präsident Joe Biden und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Montag vor der St. Michaels-Kathedrale in Kiew. © AFP | DIMITAR DILKOFF

Russlands Ziel sei es gewesen, „die Ukraine von der Landkarte zu tilgen”. Aber Putins „kriegerischer Eroberungsfeldzug” sei gescheitert. Direkt an Selenskyj gerichtet, der wie immer mit Militär-Pullover und Cargo-Hosen bekleidet war, während Biden einen blauen Anzug trug, sagte der Gast aus Amerika: „Sie, Herr Präsident, und ihr Volk, zeigen der Welt jeden Tag, was Courage ist.” Biden betonte: „Freiheit ist unbezahlbar”. Dafür so lange wie nötig zu kämpfen, sei es „wert". „Und so lange werden wir an Ihrer Seite sein, Herr Präsident, so lange wie nötig.

Ukraine-Krieg: USA wollen weitere Waffen liefern

Aber Biden kam nicht nur mit Worten. Er kündigte ein weiteres militärisches Hilfspaket im Volumen von einer halben Milliarde Dollar an. Dazu gehören neue Munition für Mehrfach-Raketenwerfer vom Typ Himars, Panzerabwehrsysteme und weitere Luftüberwachungsradar-Anlagen. Außerdem deutete er an, dass es im Laufe der Woche weitere Wirtschaftssanktionen gegen russische Eliten und Firmen geben wird, die Moskau unterstützen. Zum Wunsch der Ukraine nach Raketen mit großer Reichweite sagte Biden nichts. Hintergrund: Die USA befürchten bei offensiver Anwendung Kiews eine Eskalation des Krieges.

podcast-image

Bidens Vorgehen trifft auf bröckelnden Konsens in der amerikanischen Bevölkerung wie in Teilen des Kongresses. So sank die Zustimmung zur Militärhilfe für Kiew von Mai 2022 bis heute von 60 auf 48 Prozent. Eine bei Abstimmungen relevante Gruppe der Republikaner macht eine „Ukraine-Müdigkeit" geltend. Sie fordert wenn nicht den Stopp, so doch die drastische Reduzierung der Unterstützung, die insgesamt längst die 100 Milliarden-Dollar-Grenze überschritten hat, und die Einleitung eines Waffenstillstandes.

Lesen Sie dazu auch: Biden zeigt Stärke – doch im US-Kongress naht ein Problem

China hatte diplomatische Initiative angekündigt

Selenskyj, der Biden gemeinsam mit seiner Gattin Olena empfing, nannte den ersten Besuch eines US-Präsidenten seit 15 Jahren „historisch, zeitgenau und mutig” – und ein „extrem wichtiges Zeichen für die Unterstützung aller Ukrainer.” Als gesondert hilfreich bezeichnete er die von den USA zur Verfügung gestellte Patriot-Systeme „zum Schutz unserer Städte". Das Gespräch mit dem US-Präsidenten in Kiew „bringt uns dem Sieg näher”, erklärte der 45-Jährige.

Kein Wort verloren die Staatsmänner in Anwesenheit der Medien über zarte Bemühungen, eine Beilegung des Krieges am Verhandlungstisch anzubahnen. Zuletzt hatte China eine entsprechende Initiative angekündigt. Diplomaten in Washington vermuten, dass dies nicht ohne vorherige Rücksprache mit Putin geschehen wird, „um dessen Schmerzgrenze zu testen”. Biden wiederholt seit Beginn des Krieges, dass Washington Kiew keine Strategie vorgeben wird. Und dass die „Souveränität und territoriale Unversehrtheit” der Ukraine höchstes Gebot sei.

Biden: Russland sei wirtschaftlich "isoliert"

Für Russlands Präsidenten hatte Biden nur diplomatisch verbrämte Geringschätzung parat. „Putin hat gedacht, dass die Ukraine schwach sei und der Westen geteilt ist. Er hat gedacht, er kann uns überdauern. Ich denke nicht, dass er das im Moment noch denkt. Er lag einfach völlig daneben. Ein Jahr später sieht man den Beweis hier in diesem Raum. Wir stehen zusammen.”

Mit Bedacht merkt Biden an, dass das russische Militär „die Hälfte der besetzten Territorien” in der Ukraine verloren habe, das viele Menschen das Militär und Russland verließen, „weil sie keine Zukunft mehr in ihrem Land sehen”; zumal die russische Wirtschaft „isoliert" sei und „kämpft”.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt