Dnipro. Wolodymyr Koskin ist orthodoxer Priester der Ukraine und stammt aus Mariupol. Sein Glaube wird zurzeit auf eine harte Probe gestellt.

Ob es ihm schwerfalle, in diesen Tagen nicht zu hassen? Der asketische Mann in der schwarzen Soutane und dem hohen schwarzen Hut auf dem Kopf überlegt lange, nestelt an dem großen silbernen Kreuz auf seiner Brust, fährt sich durch den dünnen grauen Vollbart, und sagt dann: „Man sollte seine Gefühle nicht bekämpfen. Aber man sollte sie in die richtige Richtung lenken.“ Seine Frau Yulia schaut ihn an, lächelt und nickt. Wolodymyr Koskin ist Priester der orthodoxen Kirche der Ukraine und er stammt aus Mariupol. Sein Glaube wird zurzeit auf eine harte Probe gestellt.

Dnipro, eine Millionenstadt im Osten der Ukraine, rund 250 Kilometer entfernt von den Regionen, in denen die russische Offensive läuft. Viele Flüchtlinge aus den umkämpften Gebieten im Süden und weiter östlich im Donbass kommen hierher, die meisten ziehen weiter Richtung Westen.

Wolodymyr Koskin war seit 2009 Priester in Mariupol, Seelsorger für eine kleine Gemeinde mit 150 regelmäßigen Kirchgängern.
Wolodymyr Koskin war seit 2009 Priester in Mariupol, Seelsorger für eine kleine Gemeinde mit 150 regelmäßigen Kirchgängern. © Funke Foto Service | Reto Klar

Das Moskauer Patriarchat steht hinter dem Angriffskrieg Putins

An diesem Apriltag flanieren die Menschen in dem großen Park, der nach dem ukrainischen Nationaldichter Taras Schewtschenko benannt ist, sie genießen die warme Frühlingssonne. Vier alte Männer spielen konzentriert Schach, eine Gruppe Senioren macht Gymnastikübungen. Wolodymyr Koskin hat auf einer niedrigen Mauer vor dem Studentenparlament Platz genommen. Vor wenigen Tagen hat der Priester in Dnipro den Ostergottesdienst gefeiert, in einer Kirche, in der er Gast war. Sein neunjähriger Sohn wirkt fröhlich und unbeschwert. Er schickt ihn zum Spielen, als er und seine Frau beginnen, von den Schrecken berichten, die ihnen in Mariupol widerfahren sind.

In der Hafenstadt am Asowschen Meer, die seit dem Beginn des Kriegs von den Russen angegriffen wird und die mittlerweile nur noch ein Haufen rauchender Trümmer ist, war Koskin seit 2009 Priester, Seelsorger für eine kleine Gemeinde mit 150 regelmäßigen Kirchgängern.

Die orthodoxe Kirche der Ukraine hat sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von der russischen orthodoxen Kirche gelöst. Das Moskauer Patriarchat steht hinter dem Angriffskrieg Putins, das Oberhaupt der russischen Orthodoxie, Kyrill I., hat ihn als Kampf zwischen Gut und Böse bezeichnet. „Es ist falsch, wenn politische Ideologien zu Religion werden“, sagt Koskin. „Ich sage Politikern immer, dass sie kommen und gehen, der Glaube aber bleibt.“

Reporter Jan essen im Gespräch mit Wolodymyr Koskin und seiner Frau Yuliain in Dnipro. In der orthodoxen Kirche dürfen Gemeindepriester Familie haben.
Reporter Jan essen im Gespräch mit Wolodymyr Koskin und seiner Frau Yuliain in Dnipro. In der orthodoxen Kirche dürfen Gemeindepriester Familie haben. © Funke Foto Service | Reto Klar

Ukraine-Krieg: Verliert man nicht den Glauben an Gott?

Als ihr Viertel Ende Februar beschossen wird, beschließen die Koskins zu fliehen. „Eigentlich wollten wir im Keller des Theaters Schutz suchen, aber wir sind nicht dahin gekommen“, erzählt der Priester. Im Nachhinein ein Glück. Wenige Tage später wird das Theater bombardiert. Bei dem Angriff sterben mehrere Hundert Menschen. Der 45-Jährige bekreuzigt sich.

Stattdessen finden die Koskins in der Schule Nummer 26 Unterschlupf. In dem Keller halten sich mehr als 200 Menschen auf, darunter 80 Kinder, 20 von ihnen sind Babys. Es fehlt an Windeln und Hygieneartikeln. Bevor er Priester wurde, hatte Wolodymyr Koskin in einer Marketing-Agentur gearbeitet. „Mein damaliger Chef hat mir immer gesagt, ich soll mir keine Gedanken um Probleme machen, sondern Lösungen finden.“ Also organisieren der Geistliche und seine Frau Unterstützung für die Schutzsuchenden. Hilfreich ist dabei, dass Koskin zwischen 2014 und 2016 Militärkaplan war. „Aus dieser Zeit kannte ich noch Menschen, die ich als Freiwillige rekrutiert habe.“ Auch Soldaten helfen bei der Versorgung derjenigen, die in den Bunkern ausharren.

Sie besorgen Wasser, Babynahrung, Medikamente, Treibstoff für den Generator der Schule, unterstützen auch Menschen in anderen Luftschutzkellern. Es sind schwierige Tage. „Wir konnten zwei Wochen lang nicht duschen“, erzählt Yulia Koskin. Ständig erschüttern die Einschläge von Geschossen die Gegend um die Schule. Tote liegen auf den Straßen. Wenn die Welt im Chaos versinkt, verliert man dann nicht den Glauben an Gott?

„Nein, wahrscheinlich ist mein Glauben noch tiefer geworden“, sagt der Priester. Natürlich, räumt er ein, hadert er, wenn „Gott mich in all das hineinwirft und ich denke, dass ich alleine kämpfe. Aber in Wirklichkeit kämpfe ich nicht allein.“

„Es geht nicht nur um den Glauben“, sagt Frau Koskin. Sie ist Psychologin. „Es geht um Vertrauen, wenn man versteht, dass man die Situation um einen herum nicht beeinflussen kann. Man kann sich nur auf die Situation einstellen und muss selbst bestimmen, in welche Richtung es weitergehen soll. Das ist der Moment, in dem das Vertrauen stärker wird.“

Seine Kirche in Mariupol ist jetzt eine Ruine

Ihr Mann ist in dieser Zeit nicht nur als Helfer für körperliche Bedürfnisse gefragt. Die Menschen im Osten der Ukraine gelten anders als die im Westen als nicht sonderlich gläubig. „Wir leben den Glauben hier eher pragmatisch“, formuliert es der Priester und lächelt. In den Tagen im Luftschutzkeller wenden sich viele Menschen an ihn, erzählen ihm von ihren Sorgen, der Angst um Verwandte, von denen sie nicht wissen, wo sie sind. Manche fragen ihn, wie sie beten sollen. Dann beten sie gemeinsam. „Im Krieg gibt es keine Atheisten“, sagt der Priester. „Es war für die Menschen wirklich wichtig zu hören, dass sie mit ihren Ängsten nicht allein sind. Und ihnen den Glauben zu vermitteln, dass sie alles bewältigen können“, sagt Frau Koskin.

Aus den Trümmern in Mariupol bergen Männer tote Körper. In der Stadt sind nach Schätzungen im Krieg mehr als 20.000 Menschen ums Leben gekommen.
Aus den Trümmern in Mariupol bergen Männer tote Körper. In der Stadt sind nach Schätzungen im Krieg mehr als 20.000 Menschen ums Leben gekommen. © imago/ITAR-TASS | IMAGO/Sergei Bobylev

In der Zeit im Luftschutzkeller hätten sie nie Angst vor dem Tod gehabt, sagen beide. „Der Tod ist das Tor zu einem anderen Leben“, sagt der Priester. Trotzdem entschließen sie sich Mitte März, Mariupol zu verlassen. Es ist eine harte Entscheidung. Ihre Eltern wollen bleiben, sie wollen nicht, dass ihr Sohn verletzt oder getötet wird. Ein Mann überlässt ihnen sein Auto. „Er hat gesehen, wie wir den Menschen geholfen haben.“ Für die 400 Kilometer nach Dnipro brauchen die Koskins zwei Tage. „Wir mussten 25 russische Checkpoints passieren“, erinnert sich der Priester.

Kurz nachdem sie in Dnipro angekommen sind, erhält der 45-Jährige die Nachricht, dass seine Mutter in einem Bombardement ums Leben gekommen ist. Sie stirbt mit 69 Jahren. Er atmet tief durch. „Das war der Moment, in dem ich daran gedacht habe, selbst zur Waffe zu greifen.“ Er hat es sich anders überlegt. „Das Wichtigste ist, was ich als Priester tun kann. Ich kann für die Seele meiner Mutter beten. Ich kann als Priester ein Beispiel für andere Menschen geben. Ich kann Soldaten helfen, die Waffe zu ergreifen.“

Seine Kirche in Mariupol, die 2017 eingeweiht wurde, ist jetzt eine Ruine. So wie fast alle anderen Gebäude in Mariupol, so wie Schulen und Kindergärten und Krankenhäuser. „Zwei Bomben wurden absichtlich auf sie geworfen“, sagt Koskin. „Jetzt gibt es zwei Löcher anstatt einer Kirche. Sie haben uns von unserem Gotteshaus befreit.“ Er lacht bitter. Ob alle seine Gemeindemitglieder überlebt, haben, weiß er nicht. Der Priester weiß nur, dass Dutzende von ihnen als vermisst gelten. Auch Wolodymyrs Vater und die Eltern von Yulia sind unauffindbar. Seit eineinhalb Monaten haben sie keinen Kontakt mehr zu ihnen.

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Dieser Text erschien zuerst auf waz.de