Berlin/Brüssel/Moskau. Die ersten russischen Panzer rollten um Mitternacht, Stunden nach einem Marschbefehl Wladimir Putins. Der Auftakt zur großen Invasion?

  • Russische Truppen sind in der Nacht auf Dienstag in die Ostukraine eingerückt
  • Noch ist nicht bekannt, ob die Armee den Konflikt mit ukrainischen Truppen sucht
  • Bereitet Putin jetzt die Invasion der Ukraine vor?

Russland hat den entscheidenden Schritt zum befürchteten Ukraine-Krieg gemacht. Der russische Präsident Wladimir Putin ordnete in der Nacht zum Dienstag den Einmarsch russischer Truppen in die Ostukraine an. Per Dekret erklärte Putin, Einheiten der Armee sollten in den prorussischen Separatistengebieten Luhansk und Donezk in einer "friedenserhaltenden" Operation eingesetzt werden.

Noch in der Nacht fuhren erste Kolonnen gepanzerter Fahrzeuge der russischen Armee in die "Volksrepublik Donezk" ein. Zunächst war unklar, ob und wie schnell die russischen Soldaten die Auseinandersetzung mit der ukrainischen Armee suchen würden. Putin forderte aber die ukrainische Regierung auf, die Kämpfe im Donbass sofort einzustellen und drohte, andernfalls werde Kiew die volle Verantwortung tragen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky rief in einer nächtlichen Fernsehansprache zum Frieden auf. Russland verletzte die Souveränität der Ukraine, sagte der Präsident und forderte nun klare und wirkungsvolle Unterstützung des Westens.

Ukraine-Konflikt: Putins Rede war auch für seine Verhältnisse aggressiv

Zuvor hatte Putin mit der offiziellen Anerkennung der beiden Separatistengebiete als unabhängige Staaten die ultimative Eskalation eingeleitet. Diese Anerkennung soll das russische Parlament, die Staatsduma, am Dienstag bestätigen, was aber als Formsache gilt.

"Ich glaube, es war notwendig, diese überfällige Entscheidung zu fällen", sagte Waldimir Putin in seiner Fernsehansprache. Er wiederholte frühere Beschuldigungen, die ukrainische Regierung – Putin sprach von "Regime" – verübe einen Völkermord an den Einwohnern des Donbass im Osten der Ukraine. Zugleich stellte der russische Präsident in einer auch für seine Verhältnisse sehr aggressiven Rede die Staatlichkeit der Ukraine als Ganzes in Frage.

Kremlchef Wladimir Putin.
Kremlchef Wladimir Putin. © dpa

Schnelle Eskalation: Überraschte Russland westliche Regierungen?

Die Reaktionen im Westen reichten von Empörung bis zu ersten Sanktionsankündigungen der EU und der USA gegen Russland. Allerdings wurden die Regierungen westlicher Hauptstädte offensichtlich vom Tempo der Eskalation überrascht: Während Putin bereits den militärischen Marschbefehl erteilte, waren zahlreiche Regierungschefs im Westen noch damit befasst, die Unabhängigkeitserklärung für die Separatistengebiete zu kritisieren.

Die US-Regierung hatte indes frühzeitig gewarnt, russische Truppen würden schon in Kürze mit einer ungewöhnlich "brutalen" Offensive beginnen. Später verurteilten US-Präsident Joe Biden, Bundeskanzler Olaf Scholz und der französische Präsident Emmanuel Macron Putins Vorgehen und erklärten, dieser Schritt werde nicht ohne Antwort bleiben.

"Russland wird einen Preis dafür zahlen", ließ Macron erklären. Macron ist besonders getroffen, denn er hatte nur 24 Stunden zuvor nach einem Telefon mit Putin neue Hoffnung auf eine friedliche Lösung und ein weiteres Gipfeltreffen zwischen Biden und Putin gemacht. Lesen Sie auch: Ukraine: Westen droht Putin mit Guerillakrieg und Aufrüstung

Ukraine-Konflikt: Was ist Putins Strategie?

Das strategische Ziel des Kreml blieb zunächst unklar: Die Regierung in Washington geht ebenso wie die Nato davon aus, dass der Kremlherrscher sich auf eine vollständige Besetzung der Ukraine vorbereitet hat. Demnach wäre die Besetzung des Donbass nur der Auftakt für eine größere Offensive.

US-Regierungskreise berichteten von Hinweisen auf eine kurz bevorstehende, umfassendere Invasion etwa über das Schwarze Meer und durch Luftlandeeinheiten. Allerdings halten Sicherheitsexperten auch eine andere Strategie für denkbar: Es gilt als eine Option Putins, dass er mit einer begrenzten Offensive im Osten des Landes auf eine Destabilisierung der ukrainischen Regierung setzt, womöglich begleitet von Cyberangriffen und Sabotageakten.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi könnte demnach innenpolitisch schnell unter Druck geraten, sollte er auf Drängen des Westens der russischen Besetzung der Ostukraine keine umfassende militärische Abwehr entgegensetzen. Käme es andererseits zu einem Waffengang, dürfte Putin dies zum Anlass für eine umfassendere Invasion nehmen.

Putin drohte der Ukraine unverhohlen in Fernsehansprache

Putin hatte am Abend eine Fernsehansprache gehalten, die als verdeckte Kriegserklärung an die Ukraine verstanden werden konnte: Die Ukraine sei ein Staat, den Russland unter dem kommunistischen Revolutionsführer Lenin geschaffen habe. Die Denkmäler Lenins seien dort zerstört worden als Zeichen der "Dekommunisierung", sagte Putin und drohte unverhohlen: "Wir sind bereit, der Ukraine zu zeigen, was eine echte Dekommunisierung ist."

Die Ukraine habe nie eine "echte Staatlichkeit" gehabt, sondern vielmehr Modelle kopiert, sagte Putin weiter. Dort hätten heute Radikale und Nationalisten das Sagen - unter den Kuratoren des Westens, die das Land in die Sackgasse geführt hätten. Korruption und Machtkämpfe von Oligarchen würden verhindern, dass es den Menschen in der Ex-Sowjetrepublik besser gehe. Zugleich griff Putin die Nato scharf an und warf ihr eine jahrelange Täuschung vor. Russland sei zu Sowjetzeiten bei der Wiedervereinigung Deutschlands versprochen worden, dass die Nato sich nicht nach Osten ausdehne. "Sie haben uns betrogen", sagte Putin.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Russland darf von nun an Militärstützpunkte in den "Volksrepubliken" betreiben

Die Entscheidung zur Anerkennung der selbst ernannten Volksrepubliken fällte Putin nach einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates, die ungewöhnlicherweise im Fernsehen übertragen wurde. Parallel riefen die prorussischen Separatistenführer in den beiden Regionen Putin um Beistand im Kampf gegen die ukrainischen Regierungstruppen und Anerkennung ihrer staatlichen Unabhängigkeit auf.

Später unterzeichneten Putin und die Separatistenführer Freundschaftsabkommen. Laut den zunächst für zehn Jahre abgeschlossenen Verträgen darf Russland in den beiden selbst ernannten Volksrepubliken eigene Militärstützpunkte betreiben, der Grenzschutz soll gemeinsam organisiert werden.

Eine Frau blickt aus dem Fenster eines Hauses in Sjewjerodonezk im Osten der Ukraine.
Eine Frau blickt aus dem Fenster eines Hauses in Sjewjerodonezk im Osten der Ukraine. © dpa

Reaktionen in Europa: "Eklatanter Verstoß gegen das Völkerrecht"

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg verurteilte in einer Erklärung die Entscheidung Putins und warnte, damit werde die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine weiter untergraben. "Moskau heizt den Konflikt in der Ostukraine weiter an, indem es die Separatisten finanziell und militärisch unterstützt", sagte Stoltenberg. Die russische Regierung versucht auch, "einen Vorwand für einen erneuten Einmarsch in die Ukraine zu inszenieren."

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel warfen Putin einen "eklatanten Verstoß gegen das Völkerrecht" vor und kündigten Sanktionen an: "Die Union wird mit Sanktionen gegen diejenigen reagieren, die an dieser rechtswidrigen Tat beteiligt sind", erklärten sie.

In Washington erklärte die US-Regierung, Präsident Biden werde per Exekutivorder erste Maßnahmen ergreifen: Investitionen in den Separatistengebieten, der Handel mit ihnen und die Finanzierung werde für US-Bürger unter Strafe gestellt.

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