Berlin . Mit einer Offensive will sich die Ukraine vor dem Wintereinbruch einen Vorteil verschaffen und die Moral von Putins Truppen testen.

"Wir treiben sie über die Grenze", ruft Präsident Wolodymyr Selenskyj aus. Wenn die russischen Soldaten überleben wollten, sei es "an der Zeit abzuhauen."

Selenskyjs "geht nach Hause" ist Teil der psychologischen Kriegsführung. Die Gegenoffensive hat begonnen. Erstmals im Ukraine-Krieg reißt Oberbefehlshaber General Walerij Saluschnyj auf breiter Front die Initiative an sich. Bisher lautete das Muster: Russland agiert – die Ukraine reagiert.

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Es ist eine Offensive mit Ansage. Sie war für den Herbst und im Süden angekündigt worden. Der Raum Cherson war in den ersten Kriegstagen vor sechs Monaten von den Russen quasi im Vorbeigehen erobert worden.

Ukraine-Krieg: Offensive soll Energieversorgung absichern

Die Ukraine verfolgt zwei Ziele. Vor Wintereinbruch will sie sich einen Vorteil verschaffen. Dieser dürfte Boden- und Luftoperationen stark beeinträchtigen; zu Jahresende werden die Frontlinien, buchstäblich wie bildlich, eingefroren. In Kiew erklärte der Chef des Präsidialamtes, Andrij Jermak, unlängst, die Kämpfe vor der Heizperiode beenden zu wollen.

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Andernfalls bestehe das Risiko, dass Russland die Infrastruktur für Wärme und Energie zerstöre. So versteht man besser, warum die Ukraine mal die Russen um das Atomkraftwerk Saporischschja angreift, mal seine Entmilitarisierung anmahnt.

Der Kriegsplan ergibt auch politisch Sinn, da Russland für den Spätsommer Volksabstimmungen in den besetzten Gebieten angekündigt hatte. Die Russen wollen die Annexion von Gebieten unumkehrbar machen, die Ukrainer genau das erschweren oder verhindern. Aus Cherson und der ebenfalls russisch besetzten Stadt Melitopol werden Explosionen gemeldet. Kein Wunder, dass Fluchtbewegungen einsetzen, übrigens auch im Osten.

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Eine "Entscheidungsschlacht" ist nicht zu erwarten. Wohl ist die Offensive ein Test auf den russischen Widerstandsgeist. Bei den Verteidigern ist er ungebrochen – ist er es auch bei den Invasoren?

Ukraine-Krieg: Härtetest auf russische Kampfmoral

Trägt man alle Puzzlesteine zusammen – Verlautbarungen, Bilder, Videos, Berichte von Militärbloggern –, haben die Ukrainer an mehreren Stellen die äußerste Verteidigungslinie der Russen im Gebiet Cherson durchbrochen. Laut CNN haben die Truppen die Ortschaften Pravdyne, Novodmytrivka und Tomyna Balka befreit.

Die Russen melden, dass die ukrainische Armee schwere Verluste an Soldaten und Technik erlitten habe. Im Prinzip sollte der Angreifer eine Überlegenheit von drei oder vier zu eins aufweisen; er wird zumeist die höheren Verluste zu beklagen haben.

Relevant ist, dass die Ukrainer einen Plan haben – die Russen bis zum östlichen Ufer des Dnipro zurückdrängen – und ihre Offensive wochenlang vorbereitet haben. Sie haben Waffendepots, Nachschubwege und Kommunikationsposten zerstört.

Die Russen laufen Gefahr, isoliert und obendrein im Winter vom Nachschub abgeschnitten zu werden. Kremlchef Wladimir Putin hatte eigens Truppen aus dem umkämpften Donbass nach Süden abgezogen. Aber können seine Truppen die Offensive abzuwehren? Gut möglich, dass sich die Russen in den nächsten Wochen zurückziehen müssen.

Der Bürgermeister von Melitopol, Ivan Fedorov, erklärte, dass die russischen Streitkräfte ihr Militärkrankenhaus evakuiert hätten, "was auf eine weitere Angst vor verstärkten ukrainischen Aktivitäten selbst in rückwärtig besetzten Gebieten hinweist", analysiert das Institut for the Study of War. Nach ukrainischen Angaben haben das 109. Regiment der Separatisten und russische Luftlandetruppen ihre Stellungen verlassen.

Ukraine-Krieg: Selenskyjs "geht nach Hause"

Es ist dasselbe Regiment, das sich Ende Juni in einem Appell an Putin bitter über die schlechten Bedingungen (Ausrüstung, Verpflegung, Ruhepausen) beklagt hatte. Der australische General und Militärexperte Mick Ryan ist sich denn auch sicher, dass die Russen die nächste Phase mit noch weniger Kampfmoral angehen müssen.

Der Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel, Joachim Krause, erwartet einen Wendepunkt und von Putin eine neue Strategie, ein Verhandlungsangebot – schon um Zeit zu gewinnen.

Aber Selenskyj fühlt sich mittlerweile politisch so gestärkt, dass er gerade in der Videoschalte zu einer EU-Konferenz im slowenischen Bled sagte, dass es mit Russland nichts zu verhandeln gebe. Seine tägliche Ansage zielt auf die Kampfmoral der Russen ab: "Geht nach Hause."

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Dieser Artikel erschien zuerst auf www.morgenpost.de