Berlin. Die ukrainische Armee verbucht weitere Geländegewinne – wie geht es nun weiter? In Russland gerät Putin derweil stärker unter Druck.

Das Video, veröffentlicht vom ukrainischen Präsidialamt, hat es in sich: Soldaten an einem Denkmal am Rand der strategisch wichtigen Stadt Lyman schwenken eine ukrainische Flagge. Das russische Verteidigungsministerium bestätigt laut der Nachrichtenagentur RIA: „Aufgrund der Gefahr, eingekreist zu werden, wurden die alliierten Streitkräfte von Lyman an vorteilhaftere Grenzen zurückgezogen.“

Russland hatte Lyman im Mai eingenommen und seitdem zu einem militärischen Zentrum ausgebaut. In der Erklärung des russischen Verteidigungsministeriums heißt es weiter, man habe dem Feind zwar schwere Verluste zugefügt. Trotzdem sei dieser militärisch „signifikant überlegen“ gewesen.

Ukraine-Krieg: Kleinstadt Isjum ohne Gas und Strom

Es ist die nächste Schmach der russischen Truppen. Bereits Mitte September mussten sie sich aus der Region Charkiw zurückziehen. Dort, in der Kleinstadt Isjum und anderswo, beginnen jetzt die Aufräumarbeiten. Die Stadt ist ohne Strom, es gibt kein Gas und alle Läden sind zu. Es gibt nichts – außer zerstörten Häusern und Panzerwracks, den Überresten der vergangenen Gefechte zwischen russischen und ukrainischen Truppen.

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Oleksandr, 61, befürchtet, dass die Kämpfe noch lange weitergehen werden. „Ich glaube nicht, dass die Russen es wieder bis hierhin schaffen, dass die Ukrainer sie durchlassen. Es kann aber Raketenangriffe und Artillerieschläge geben, das ist eher wahrscheinlich. Dann werden wir gezwungen sein, den ganzen Winter im Keller auszuharren.“ Lesen Sie auch: Putin erleidet nächste bittere Niederlage

Am vergangenen Freitag hatte Russlands Präsident Wladimir Putin in einer Rede offiziell die Annexion der besetzten ukrainischen Gebiete verkündet. Russland habe nun vier neue Regionen, sagte der Präsident. „Unsere Brüder und Schwestern in der Ukraine sind Teil unseres Volkes.“ Kiew dagegen fordert Putin auf, militärische Handlungen einzustellen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Über diese Gebiete werde allerdings nicht verhandelt, betont Putin. Und fügt hinzu: „Wir werden unser Land mit allen Mitteln verteidigen.“

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Abgeschlossen ist die Annexion erst mit der Verabschiedung zahlreicher Gesetze zur Integration der Gebiete. Eine reine Formsache: Der Ausschuss für Staatsaufbau und Gesetzgebung im russischen Parlament genehmigte bereits die Gesetze. Der nächste Schritt ist die Zustimmung des Föderationsrates.

Ukraine-Krieg: Russland musste viele Verluste hinnehmen

International wird die Annexion der besetzten Gebiete nicht anerkannt. „Die Scheinreferenden des Kremls sind ein sinnloser Versuch zu verschleiern, was ein weiterer Versuch des Landraubs in der Ukraine ist“, so US-Außenminister Antony Blinken.

Die Situation verschärft sich: Präsidenten Wolodymyr Selenskij hat einen, eher unrealistischen, Eilantrag auf Aufnahme in die Nato gestellt. Und das russische Verteidigungsministerium lässt Hunderttausende Reservisten einziehen. Sie sollen die besetzten Regionen in der Ukraine halten. Auch interessant: Atomangriff auf Ukraine? Ex-General verrät Antwort der USA

Militärisch musste Russland in letzter Zeit viele Verluste hinnehmen. In den annektierten Gebieten stehen Moskaus Truppen weiter unter massivem Druck angesichts des Vormarsches der Ukrainer. Aus Saporischschja, Cherson, Donezk und Luhansk berichten die Behörden von zahlreichen Versuchen der ukrainischen Truppen, Frontlinien zu durchbrechen.

Die ukrainischen Streitkräfte verbuchen Berichten zufolge an der Südfront in der Region Cherson Geländegewinne. Während sich die Regierung in Kiew am Montag offiziell zunächst nicht zum Kriegsgeschehen äußerte, beschrieben russische Militär-Blogger, wie ukrainische Panzerverbände entlang des Flusses Dnipro vorstießen.

Ukraine-Krieg: Kritik an Putin aus den eigenen Reihen

Innenpolitisch steht Russlands Präsident Putin mehr und mehr unter Druck. Die von weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnte Mobilmachung hatte die größten Anti-Kriegs-Proteste seit Monaten ausgelöst. Einberufungsstellen wurden in Brand gesetzt. Hunderttausende Russen haben das Land inzwischen verlassen.

Stürzt Putin? Diese Männer könnten den Kremlchef beerben

Nikolai Patruschew (70), enger Vertrauer, Sekretär des Sicherheitsrates, wie Putin aus Leningrad: Er löste ihn schon 1999 als Geheimdienstchef ab.
Nikolai Patruschew (70), enger Vertrauer, Sekretär des Sicherheitsrates, wie Putin aus Leningrad: Er löste ihn schon 1999 als Geheimdienstchef ab. © Ronen Zvulun/ AFP
Sergei Sobjanin (64) leitete früher Putins Präsidialamt. Als Bürgemeister von Moskau ist er längst aus Putins Schatten getreten.
Sergei Sobjanin (64) leitete früher Putins Präsidialamt. Als Bürgemeister von Moskau ist er längst aus Putins Schatten getreten. © Alexander Astafyev/AFP)
Sergei Kirijenko (60), noch ein Mann aus dem  Dunstkreis Putins: Als Vize-Stabschef im Präsidialamt sitzt er im Zentrum der Macht.
Sergei Kirijenko (60), noch ein Mann aus dem Dunstkreis Putins: Als Vize-Stabschef im Präsidialamt sitzt er im Zentrum der Macht. © Sergei Savostyanov//dpa
Igor Setschin (62),  Manager, Yacht-Eigner, wegen seiner grimmigen Miene
Igor Setschin (62), Manager, Yacht-Eigner, wegen seiner grimmigen Miene "Darth Vader" genannt: Die EU führt ihn auf einer "schwarzen Liste". © Alexei Druzhinin/AFP
Dmitri Medwedew, Ex-Regierungschef und Präsident: Mit 57 Jahren der Benjamin in der Runde, ein Scharfmacher im Ukraine-Krieg.
Dmitri Medwedew, Ex-Regierungschef und Präsident: Mit 57 Jahren der Benjamin in der Runde, ein Scharfmacher im Ukraine-Krieg. © Yekaterina Shtunika/AFP
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Auch in den eigenen Reihen gibt es zunehmend Kritik. Allen voran von Ramsan Kadyrow, dem Präsidenten der russischen Teilrepublik Tschetschenien. Er kritisierte auf Telegram den für den Rückzug aus Lyman verantwortlichen russischen Befehlshaber. Der Generaloberst setze Soldaten ein, so Kadyrow, „versorgte sie jedoch nicht mit der erforderlichen Kommunikation, Interaktion und Munitionsversorgung“.

Ukraine-Krieg: Kadyrow schickt seine Kinder an die Front

Kadyrow gehört zu den stärksten Befürwortern der „Spezialoperation“. Tschetschenische Soldaten bilden einen Teil der Vorhut des russischen Militärs in der Ukraine. Jetzt fordert er ein härteres Vorgehen. „Meiner persönlichen Meinung nach sollten drastischere Maßnahmen ergriffen werden, bis hin zur Verhängung des Kriegsrechts in den Grenzregionen und dem Einsatz von Atomwaffen mit geringer Sprengkraft.“

Nach eigenen Angaben will der Tschetschenenführer auch drei seiner eigenen Söhne an die Front in der Ukraine schicken. Sie sind zwischen 14 und 16 Jahre alt und würden bald an den „schwierigsten Abschnitten an der Kontaktlinie“ eingesetzt werden, schrieb Kadyrow am Montag im Onlinedienst Telegram. Er mache „keine Witze“. Seine Kinder seien „seit langer Zeit“ militärisch ausgebildet worden. Ein Video zeigt die Jugendlichen beim Abfeuern von Geschossen an einem Schießstand.

Ukraine-Krieg: Putin will Gebiete um jeden Preis halten

Doch wie wird Russland reagieren auf die zunehmenden Misserfolge? Man setzt auf die mobilisierten Reservisten, die zunächst ausgebildet und nicht in vorderster Frontnähe eingesetzt werden sollen. Vor allem aber geht es um Ersatz für die von den ukrainischen Truppen zerstörten Waffensysteme.

Ende September berichtete die russische Staatsfirma „Rostech“ über die vorzeitige Übergabe einer weiteren Charge der wichtigen T-80BVM-Kampfpanzer. Zuvor hatte das Unternehmen schwere Flammenwerfer-Systeme CBT-1A „Solnzepek“ vorzeitig ausgeliefert. Es geht auch um neue T-90M-Panzer und Flugzeuge vom Typ Su-35S und Su-57. Mehr zum Thema: Ukraine-Krieg: Europa steht vor „historischem Fluchtwinter“

Ukraine-Krieg: Was ist die nächste Eskalationsstufe?

Die annektierten Gebiete will Putin mit allen Mitteln halten. Für Russland gelten sie nun als eigenes Territorium. Der Analyst Alexander Baunow befürchtet auf dem Portal „Carnegie Politika“: „Das Überschreiten der russischen Grenze durch ausländische Truppen, wo immer sie verläuft (auch wenn sie morgen woanders verlaufen sollte als gestern), gibt Putin sicherlich das formale Recht und quasi die moralische Rechtfertigung für die nächste Eskalationsstufe. Die ‚Spezialoperation‘ zum Krieg zu erklären, Maßnahmen zur Mobilmachung zu ergreifen, ukrainische Objekte zu attackieren, die man vorher nicht zu attackieren gewagt hat, und überzeugender mit Atomwaffen zu drohen.“

Die Menschen in Isjum in der Region Charkiw geben sich keiner Illusion hin. Der Beschuss mit Raketen und Granaten könnten noch lange dauern. Angst haben sie vor allem vor dem Winter. Viele leben in Wohnungen ohne Fensterscheiben, Baumaterial ist rar, ob und wann es wieder Gas geben wird, das ist unklar. „Ich habe vor eineinhalb Jahren einen Ofen im Haus gebaut, so sind wir für Winter versorgt“, sagt Oleksandr. „Holz habe ich noch keins, aber unweit des Hauses ist eine Grünanlage, dort werde ich Holz besorgen können.“

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Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de