Berlin. Kein Frieden in Sicht: Muss die Ukraine doch kapitulieren? Oder zieht sich Putin einfach zurück? Sieben Szenarien für das Kriegsende.

Die Friedensbemühungen im Ukraine-Krieg bleiben bisher erfolglos. Dreimal schon trafen sich Unterhändler Russlands und der Ukraine, ohne ein Ergebnis zu erzielen, auch ein Treffen der Außenminister verlief enttäuschend. Dabei hatte sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zuvor kompromissbereit gezeigt und Gespräche über eine ukrainische Neutralität angeboten.

Welche Chancen für eine Verhandlungslösung gibt es noch? Wie kann der Krieg sonst zu Ende gehen? Und warum warnen Sicherheitsexperten, dass die Zeit für einen Kompromiss bald abläuft? Die sieben möglichen Szenarien und ihre Wahrscheinlichkeit:

Szenario 1: Totale Niederlage der Ukraine

Eine russische Besetzung der gesamten Ukraine wäre enorm langwierig, verlustreich und teuer. Russland bräuchte für eine dauerhafte Besetzung des Landes nach Einschätzung von Nato-Experten mindestens 600 000 Soldaten, dreimal so viel wie bislang in der Region im Einsatz sind. Die Opfer wären hoch, mit lang anhaltendem Widerstand wäre zu rechnen.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat also großes Interesse, auf die große Invasion zu verzichten und den Konflikt vorher zu beenden – aber zu seinen Bedingungen. Bislang zeigt er sich entschlossen die Angriffe fortzusetzen, bis seine Forderungen erfüllt sind: Anerkennung der Krim als russisches Gebiet und der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk im Osten als unabhängige Staaten, neutraler Status der Ukraine mit Verzicht auf Mitgliedschaft in der Nato.

Szenario 2: Wenn sich Russland zurückzieht

Einen Rückzug ohne sichtbaren Erfolg schließt Moskau aus, er ist auch nach Einschätzung von Nato-Militärs „praktisch undenkbar“. Noch kann Russland die Wirkung der westlichen Sanktionen verkraften, seine militärische Überlegenheit steht für fast alle Experten außer Frage. Dass Moskau den Krieg verlieren könnte, sei „Wunschdenken“, sagt Russland-Experte Andras Racz von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin.

Racz erwartet ebenso wie Nato-Experten, dass Putin gezielt die Opfer unter der Zivilbevölkerung erhöhen und Städte zerstören lassen will, wie es im Tschetschenien-Krieg erprobt wurde. Für den Häuserkampf will Moskau auch die Söldnertruppe „Gruppe Wagner“ und tschetschenische Einheiten einsetzen, beide gefürchtet wegen ihrer besonderen Brutalität.

Szenario 3: Kapitulation der Ukraine

Gegenwärtig ausgeschlossen. „Wir werden uns nicht ergeben“, sagt Präsident Selenskyj „Ich bin bereit für einen Dialog. Aber wir sind nicht bereit für eine Kapitulation.“ Der Widerstandswille der Ukrainer ist groß: Die Armee leistet bislang mit westlicher Waffenhilfe heftige und teilweise sehr erfolgreiche Gegenwehr, weshalb bei vielen Ukrainern die Hoffnung wächst, das Land könne den Krieg gewinnen.

Doch die Regierung weiß, dass sie zügig eine Verhandlungslösung braucht, um eine totale Niederlage abzuwenden, den Willen sollen auch die Unterhändler in den Gesprächen mit Moskau signalisiert haben.

Szenario 4: Ukraine erklärt sich für neutral

Hier ist die größte Bewegung. Moskau will, dass die Ukraine in ihrer Verfassung festschreibt, dass sie weder der Nato noch der EU beitritt. Selenskyj hat sich bereit erklärt, über einen neutralen Status zu reden. Beim Treffen der Außenminister in Antalya wurde das offiziell angeboten, aber nur mit Blick auf die Nato – und nur gegen Sicherheitsgarantien der internationalen Staatengemeinschaft. Die russische Seite lehnte diese Bedingung zunächst ab. Nach ihren Vorstellungen gehört zu einer neutralen Ukraine auch eine „Demilitarisierung“.

Unklar ist, ob es im ukrainischen Parlament eine Zwei-Drittel-Mehrheit für die Verfassungsänderung gäbe. Trotzdem ist die Neutralitäts-Debatte ein Hoffnungszeichen, ein Einstieg für Verhandlungen. Die ukrainische Seite habe gezeigt, dass sie kompromissbereit sei, sagt Russlandexperte Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

Szenario 5: Friedenslösung für den Donbass

Dieser Vorschlag spielte bei westlichen Vermittlungsversuchen vor dem Krieg eine Rolle. Die selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk bekämen einen Sonderstatus innerhalb der Ukraine mit Vetorecht auch bei außenpolitischen Entscheidungen. Ein Nato-Beitritt würde so garantiert verhindert, eine Westorientierung schwerer. Für die Ukraine am Ende wohl erträglich. Selenskyj sagt, er sei beim Donbass zu Kompromissen bereit. Putin hat die Volksrepubliken aber bereits als unabhängige Staaten anerkannt, er will weit mehr.

0Ukrainische Soldaten helfen einer Frau in Irpin am Stadtrand von Kiew, eine schwer beschädigte Brücke zu überqueren.
0Ukrainische Soldaten helfen einer Frau in Irpin am Stadtrand von Kiew, eine schwer beschädigte Brücke zu überqueren. © dpa | Felipe Dana

Szenario 6: Die Ukraine wird geteilt

Putin fordert von Kiew die Abtretung der Krim und der beiden Separatistengebiete. Er könnte nach Erwartung westlicher Sicherheitsexperten zusätzlich zur Krim den Donbass, einen Landstreifen am Schwarzen Meer und weitere östliche Landesteile als russisches Gebiet beanspruchen. Verbunden mit einer Neutralitäts-Garantie würde Putin den Feldzug dann als erfolgreich darstellen. Für die Ukraine wäre das eine schwere Niederlage. Selenskyj lehnt den Verzicht auf die Krim oder weitere Gebiete strikt ab.

Andernfalls müsste er mit seinem Sturz rechnen, denn hier verläuft bislang die rote Linie für viele Bürger der Ukraine. Eine solche Lösung würde zu schweren innenpolitischen Konflikten führen. Doch gibt es unter EU-Diplomaten die Vermutung, dass die Regierung in Kiew notfalls versuchen werde, dem Westen die Verantwortung für schmerzhafteste Zugeständnisse zuzuweisen – weil er die Ukraine im Stich gelassen habe.

Szenario 7: Putin stürzt die ukrainische Regierung

Der Sturz der Regierung in Kiew war ursprünglich ein Ziel Russlands. Dazu müssten russische Truppen die Hauptstadt einnehmen, was sich im Moment zwar noch als schwierig erweist, nach Einschätzung westlicher Militärexperten aber in den nächsten Wochen für die Angreifer erreichbar wäre.

Putin versichert jetzt, dass er kein Besatzungsregime in Kiew plane. Doch Russland-Experte Meister von der DGAP warnt, man könne dem Kreml nicht trauen: „Das ist nur Taktik. Natürlich will Putin weiter den Regierungswechsel.“ Wie anders sollte Putin einen prorussischen Kurs der Ukraine sichern?

Das Problem: Die Zeit läuft

Die Chancen, den Krieg in überschaubarer Zeit mit einer Verständigung zu beenden, schwinden. Sicherheitsexperten warnen: Je länger sich die Gespräche jetzt hinzögen, desto wahrscheinlicher die Eskalation in einen sehr langwierigen Konflikt. Der Washingtoner Think-Tank CSIS hat in einer Studie untersucht, wie und nach welcher Zeit militärische Konflikte seit dem Zweiten Weltkrieg zu Ende gingen. Kriege, die länger als einen Monat gedauert hätten, endeten demnach nur in einem Viertel der Fälle mit einer Waffenstillstands-Vereinbarung und zogen sich oft lange hin. „Trotz des Muts der Ukrainer ist das eine gefährliche Aussicht“, so CSIS-Autor Benjamin Jensen.

Das Problem: Die russischen Verhandler haben offenbar nur wenig Entscheidungsspielraum und wissen nicht genau, was Putin will. Das behindert jetzt die Gespräche. Selenskyj fordert auch deshalb ein direktes Treffen mit dem Kremlherrscher: „Nur mit Gesprächen zwischen den zwei Präsidenten kann der Krieg beendet werden“, sagt Selenskyj. Aber noch hat Putin nicht zugesagt.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt