Stadtroda. Im Asklepios Fachklinikum Stadtroda werden Kinder und Jugendliche mit Autismus-Störungen begleitet.

Der Begriff „Autismus“ wird häufig mit realen oder fiktiven Persönlichkeiten assoziiert, die über so genannte „Inselbegabungen“ verfügen. Sei es die US-amerikanische Tierverhaltensforscherin Temple Grandin, sei es der von Dustin Hoffmann brillant verkörperte Protagonist des Filmes „Rain Man“ – oder jüngst die Umweltaktivistin Greta Thunberg.

Ungeachtet dessen handele es sich bei den unterschiedlichen Krankheitsausprägungen, die unter dem Begriff der Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) zusammengefasst werden, oft um komplexe tiefgreifende Entwicklungsstörungen unterschiedlichen Schweregrades, erklärt Michael Kroll, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Asklepios Fachklinikum Stadtroda.

Wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten

Gekennzeichnet sei diese Gruppe von Störungen unter anderem durch Abweichungen in den wechselseitigen sozialen Interaktionen und Kommunikationsmustern sowie durch ein eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten.

„Häufig haben Betroffene Probleme im Bereich der Empathie und ein eingeschränktes Verständnis davon, dass andere Menschen Gefühle haben“, sagt Kroll.

In den Institutsambulanzen für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, die das Asklepios Fachklinikum in Stadtroda und Gera betreibt, werden Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen behandelt. Zudem erfolgt hier in Experten-Teams eine sorgfältige Diagnostik, wenn Kinderärzte einen entsprechenden Verdacht haben.

Stationäre Aufnahme ausschließlich in Krisensituationen

Eine stationäre Aufnahme erfolge ausschließlich in Krisensituationen, da es für die Betroffenen sehr problematisch werden könne, wenn sie aus ihrem Umfeld herausgenommen würden, erklären Rehabilitationspädagogin Barbara Vogler von der Psychiatrischen Institutsambulanz in Stadtroda und ihre Geraer Kollegin, die Sozialpädagogin Heike Kuhles.

„Unter dem Begriff Autismus-Spektrum-Störungen sind unterschiedliche Formen der Erkrankung zusammengefasst“, erklärt Barbara Vogler, die seit gut dreißig Jahren mit autistischen Kindern und Jugendlichen arbeitet und als ausgebildete Lehrerin zudem auch regelmäßig Weiterbildungsveranstaltungen an Schulen durchführt.

In der sozialen Interaktion mit anderen beeinträchtigt

„Frühkindlicher Autismus“, „Atypischer Autismus“ und „Asperger-Syndrom“ sind drei Kategorien innerhalb des Spektrums. Betroffene Kinder sind meist in der sozialen Interaktion mit anderen beeinträchtigt, vermeiden nicht selten Blickkontakt und Berührungen.

„Treten die Symptome vor Vollendung des dritten Lebensjahres auf, und ist die Sprachentwicklung zudem verzögert oder bleibt ganz aus, spricht man von Frühkindlichem Autismus“, erklärt Heike Kuhles. Sprache und Kommunikation sind bei diesen Kindern oft beeinträchtigt, vielfach zeigen sie eine abnorme Entwicklung, ein gestörtes Nähe-Distanz-Verhalten und repetitives, restriktives und stereotypes Verhalten. Manche ordnen wie unter Zwang Gegenstände akribisch an, drehen unermüdlich Gegenstände wie Kreisel oder schaukeln rhythmisch ihren Oberkörper. Oft sind betroffene Kinder und Jugendliche in ihrer Intelligenz gemindert. Beim sogenannten „Atypischen Autismus“ können Erkrankungsalter oder Symptomatik abweichen.

Sprachliche und geistige Entwicklung bei „Asperger“ ohne Verzögerung

Treten alle Symptome des frühkindlichen Autismus zusammen mit normaler Intelligenz auf, so spricht man vom „hochfunktionalen Autismus“. Im Erwachsenenalter sind diese Betroffenen von Menschen mit dem Asperger-Syndrom, einer vergleichsweise milden Form des Autismus, kaum zu unterscheiden. Bei Kindern mit Asperger-Syndrom verläuft die sprachliche und geistige Entwicklung ohne Verzögerung. „Allerdings fallen sie oft durch eine förmliche Sprache und eine extreme Fokussierung auf bestimmte Interessen auf“, sagt Barbara Vogler.

Viele Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen können durch Sonderfördermaßnahmen, wie Schulbegleitung oder Nachteilsausgleich, vergleichsweise gut integriert werden. Es sei daher immens wichtig, das schulische Umfeld für die Erkrankung zu sensibilisieren, unterstreichen Barbara Vogler und Heike Kuhles. Auf Wohlwollen und Verständnis komme es hier an, erklärt Heike Kuhles: „Die Kinder können Reize oft nicht gut verarbeiten, sind teilweise sehr schwierig, verhaltensauffällig und reagieren zum Teil extrem. Ihre Aggressionen entstehen oft aus einem Ohnmachtsgefühl heraus. Was für sie den Schulalltag zur Herausforderung macht, ist vor allem auch die fehlende Vorhersehbarkeit.“

Auch Verständnis und Förderung durch das Elternhaus spielen eine große Rolle für die weitere Entwicklung. „Für neunzig Prozent der Eltern ist es eine Erleichterung, wenn sie die Diagnose erfahren, da vor allem die Verhaltensauffälligkeiten der Kinder von Außenstehenden oft als Folgen von Erziehungsfehlern fehinterpretiert werden“, unterstreicht Barbara Vogler.

Die beiden Autismus-Expertinnen begleiten Kinder und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen oft über viele Jahre. Sie geben praktische Tipps, stellen Kontakte zu verschiedenen Trägern her, die spezielle ambulante Therapien anbieten, leisten Aufklärungsarbeit und versuchen so, die Familien zu entlasten. „Autismus“, sagt die Barbara Vogler, die früher Mathe und Physik unterrichtet hat, „verläuft nicht geradlinig, sondern eher wie eine Sinusfunktion. Das Gute für die Eltern ist: Nach jedem Tief gibt es auch wieder ein Hoch.“