Hamburg. Turnerin Kim Bui beendet ihre Karriere bei der Heim-EM. Hier spricht die 33-Jährige über ihr Leistungssportleben.

Sie hat lange überlegt, ob ihr Weg der richtige ist. Ob es nicht besser gewesen wäre, erst einmal zu turnen und dann den Abschied vom Leistungssport zu verkünden. Aber Druck hätte sie so oder so verspürt vor einer Heim-EM, und die ungezählten Reaktionen, die Kim Bui erhalten hat, seit sie in der vergangenen Woche das Ende ihrer Karriere nach der von diesem Donnerstag an im Rahmen der European Championships ausgetragenen Kunstturn-EM in München angekündigt hatte, bestärken die 33-Jährige in ihrer Ent-scheidung. „Es ist unglaublich berührend für mich zu sehen, wie viele Menschen Anteil an meiner Karriere neh-men. Deshalb bin ich sehr froh, dass nun alle bewusst daran teilhaben können, wenn ich meinen letzten Wettkampf bestreite“, sagt sie.

Wie es sein wird, wenn sie an diesem Wochenende – nach dem Mehrkampf am Donnerstag (10 Uhr) stehen noch das Teamfinale am Sonnabend (14 Uhr) und die Einzelfinals am Sonntag (14.30 Uhr) an – ihre letzten Auftritte auf der Bühne bestreitet, die bislang ihr Leben war? „Ich kann es noch nicht einschätzen“, sagt die in Tübingen geborene Tochter, deren Eltern aus Vietnam und Laos stammen. Ein emotionales Gemisch mit den Zutaten Vorfreude, Erleichterung, Aufregung, Trauer und Angst sei es, das in ihr gäre.

Vorfreude, weil sie den Abschied gemeinsam mit dem Team bestreiten kann, das sie über 17 Jahre im A-Kader begleitet hat. „Wir sind so eng zusammengerückt, dass ich mich wahnsinnig darauf freue, noch einmal mit der Mannschaft um Medaillen kämpfen zu können“, sagt sie. Erleichterung, weil das Fällen einer solch einschneidenden Entscheidung nie einfach ist. Aufregung, weil ein neuer Lebensabschnitt wartet. Trauer, weil ein prägender Le-bensabschnitt endet. Und Angst? „Ins Ungewisse hineinzuspringen, ohne zu wissen, was dann kommt, ist immer be-ängstigend“, sagt sie.

Kim Bui hat ein Studium abgeschlossen

Allerdings muss man sich um Kim Bui keine Sorgen machen. Dem Turnen will die 156 Zentimeter große Athletin vom MTV Stuttgart, die 37 Medaillen, 13 davon in Gold, bei deutschen Meisterschaften gewann, auch weiterhin treu bleiben. „In welcher Funktion, das ist offen, aber es ist ein so schöner Sport, der mich immer begleiten wird“, sagt sie. Außerdem hat die Schwäbin ihren Blick schon immer über den Schwebebalken, an dem sie mit EM-Bronze in Berlin 2011 ihr bestes Einzelergebnis feierte, hinaus gerichtet.

Als Aktivensprecherin setzte sie sich über viele Jahre für die Belange ihrer Teamkolleginnen ein. Bei der EM 2021 in Basel (Schweiz) trug sie als Zeichen im Kampf gegen Sexualisierung im Turnsport einen Ganzkörperanzug. Bei elf WM- und drei Olympiateilnahmen konnte sie ihren Horizont erweitern. Und um nicht nur den Körper, sondern auch den Kopf bis an seine Grenzen zu fordern, hat Kim Bui ein Studium der Technischen Biologie abgeschlossen.

Wohin sie all das im Leben nach dem Leistungssport führen wird, kann sie noch nicht sagen. „Eine konkrete Anschlussbeschäftigung habe ich noch nicht. Ich möchte neue Wege gehen, mich neu definieren“, sagt sie. Der Sport habe sie, nicht nur wegen ihrer beiden Kreuzbandrisse, gelehrt, diszipliniert und standhaft auch durch die Täler des Lebens zu gehen, um die Höhen noch mehr genießen zu können. Gedanken, die Karriere zu beenden, habe sie schon länger mit sich herumge-tragen. „Aber vor einem Jahr wäre ich noch nicht bereit dafür gewesen. Jetzt fühlt es sich richtig an.“

Den richtigen Zeitpunkt zu finden, um Schluss zu machen mit etwas, von dem man weiß, dass man vielleicht nie mehr im Leben etwas besser können wird – eine Aufgabe ist das, an der im Spitzensport viele scheitern. Auch Kim Bui hat Respekt vor dem Loch, in das sie fallen könnte. Aber noch viel mehr hat sie den Mut, daraus wieder herauszukrabbeln, auch weil sie sicher ist, alles herausgeholt zu haben aus dem Turnen. „Ich habe mich vollends ent-faltet. Leistungssport bedeutet auch, Entbehrungen zu akzeptieren. Jetzt bin ich bereit, neue Türen zu öffnen und Bedürfnisse zuzulassen. Ich möchte jetzt das Leben leben“, sagt sie. Dieser Weg kann gar nicht falsch sein