Bergamo. Bergamo erlebte als erstes in Europa, welche Verheerungen Corona anrichten kann. Die Menschen schöpfen daraus Kraft. Ein Ortsbesuch.

Wenn die Sonne es schafft, den Dezembernebel zu verdrängen, lässt sie die Oberstadt von Bergamo, die Città Alta, erstrahlen. Und wenn die Sonne untergeht, wird das Ensemble aus Kathedrale, Palazzi, Türmen und Plätzen zur Trutzburg.

Der Feind dieser Trutzburg: „Das ist Covid-19“, sagt Luca Fusco, einer der 120.000 Bewohner der norditalienischen Stadt. „Und wir Menschen sind die Soldaten, die gegen diesen Feind kämpfen. Wir wissen nicht, wen der Feind trifft, aber wir wissen, was er anrichtet, und wir haben Angst. Also schlagen wir zurück“.

So wie Luca Fusco sprechen viele Menschen in der Stadt, die eilig durch die weihnachtlichen Straßen laufen. Sie sind geprägt von der ersten Corona-Welle im Februar und März 2020. Damals machte das noch unbekannte Coronavirus die malerische Stadt am Fuß der Alpen auf einen Schlag auf tragische Weise weltberühmt: In nur wenigen Wochen starben 4500 Menschen an Covid-19.

Die Covid-Kranken verschwanden im Klinikum Papa Giovanni

Väter und Mütter, Brüder und Schwestern, Onkel und Tanten verschwanden damals im renommierten Universitätsklinikum Papa Giovanni XXIII, wo sie abgeschottet von den Angehörigen einem völlig überforderten Team aus Ärztinnen und Ärzten und dem Pflegepersonal überlassen wurden.

Im 1000-Betten-Krankenhaus am Stadtrand, einem riesigen Komplex aus vier Hochhaustürmen, starben so viele Menschen, dass Militärtransporter die Särge abtransportieren mussten, um sie in die Krematorien in Hunderte Kilometer entfernte Städte zu bringen. Nach Ferrara, nach Undine, nach Bologna.

Die Toten von Bergamo haben auf dem örtlichen Friedhof ihre eigenes Feld.
Die Toten von Bergamo haben auf dem örtlichen Friedhof ihre eigenes Feld. © AP | Felice Calabro'/AP Photo

„Das war Krieg“, sagt Luca Fusco. Der 60-jährige Steuerberater hat seinen Vater und seine Tante in dieser ersten Welle verloren. „Mein Vater war 84 und kerngesund“, erzählt er im leichten Schneegriesel bei einem Spaziergang am Fuß der Città Alta. „Wir haben das Steuerberaterbüro gemeinsam aufgebaut, 40 Jahre lang arbeiteten wir jeden Tag dort“. Der Vater sei auch noch in diesem hohen Alter voll berufstätig gewesen, „er war immer unterwegs, immer unter Menschen“.

Zwei Tage nach dem positiven Test war der Vater tot

Als Covid auftrat und viele alte Menschen starben, brachte Luca Fusco den Vater in eine Altenresidenz, um ihn zu schützen. Doch dort wurde er erst recht krank. Zwei Tage nach seinem positiven Test war er tot. Seine Ehefrau, mit der er 60 Jahre verheiratet war, sein Sohn Luca, sein Enkel Stefano – sie alle konnten ihn nicht mehr sehen. Wie so viele andere bekam die Familie nach einiger Zeit seine Urne überstellt. „Ich weiß noch nicht einmal, ob er ein Leichenhemd trug, als er verbrannt wurde“, sagt Luca Fusco.

Diese Unwissenheit und auch Ohnmacht gegenüber dem Virus hat er mit den meisten Menschen der Stadt gemeinsam. „Jeder hat ein Opfer in der Familie oder im Freundeskreis“, sagt Stadtsprecher Francesco Alleva. „Krieg“ – so nennt auch er die Wochen im März 2020, als in den menschenleeren Straßen nur die Sirenen der Rettungsfahrzeuge zu hören waren. Damals schottete er sich gemeinsam mit dem Bürgermeister Giorgio Gori im Rathaus ab. Die anderen Mitarbeiter wurden nach Hause geschickt.

„Corona schlug in Bergamo ein wie eine Bombe“, sagt Luca Fusco im Gespräch mit Autorin Birgitta Stauber. Er verlor seinen Vater und seine Tante.
„Corona schlug in Bergamo ein wie eine Bombe“, sagt Luca Fusco im Gespräch mit Autorin Birgitta Stauber. Er verlor seinen Vater und seine Tante. © AP | Felice Calabro'/AP Photo

Alleva und der Bürgermeister stellten ein Team von 1000 Freiwilligen für eine Telefonhotline auf die Beine unter dem Motto: „Du kannst anrufen“. Eine Hotline für verzweifelte Menschen in Quarantäne. Menschen, die Symptome hatten, aber keinen Arzt fanden. Menschen, die nicht einkaufen oder in die Apotheke gehen konnten. Die einfach reden wollten.

„Wir waren unendlich traurig“, erinnert sich Alleva. „Und vollkommen unvorbereitet, vollkommen überfordert“. Seine Eltern, seine Schwester waren selbst erkrankt. „Ich hatte Angst um meinen 84-jährigen Vater“.

Bürgermeister Gori: Ich habe am Anfang das Virus unterschätzt

Alleva hatte Glück: Seine Familie überlebte, und er blieb vom Virus verschont. Doch ihm und dem Bürgermeister wurde klar: So etwas darf sich nicht wiederholen. Als die erste Welle nach dem langen Lockdown endlich abebbt, blieb die Stadt vorsichtig und sie ist es bis heute. „Damals waren wir die Ersten, wir wurden geschlagen vom Virus“, ergänzt Bürgermeister Giorgio Gori.

„Die anderen Länder, auch Deutschland, konnten sich vorbereiten, wir nicht“. Gori gibt zu, die Dynamik von Corona Anfang März 2020 unterschätzt zu haben. „Das soll uns nicht mehr passieren.

Bergomos Bürger Giorgio Gori sagt heute: „Wir haben damals die Lage unterschätzt“.
Bergomos Bürger Giorgio Gori sagt heute: „Wir haben damals die Lage unterschätzt“. © Privat | Privat

Impfen, Maske, Fieber messen: Der Dreiklang der Stadt

So blieb die Maske selbstverständlich, als Deutschland schon Termine für den Freedom Day diskutierte – und zwar auch unter freiem Himmel. Jedes Restaurant, jede Bar prüfte schon im Herbst den Green Pass und damit den Impfstatus und maß in jedem öffentlichen Gebäude die Körpertemperatur.

Das Ergebnis: Als überall in Europa die Inzidenzen in die Höhe schnellten, blieb die Stadt in der weißen Zone – und damit mehr oder weniger coronafrei. „Bergamo hat eine der niedrigsten Inzidenzen von Italien – und Italien steht in Europa mit am besten da“, sagte Alleva noch Mitte Dezember.

Doch nun steigen die Zahlen wieder. „Wir sind wieder sehr besorgt“, sagt Bürgermeister Gori. Umso wichtiger sei es jetzt, nicht nachzulassen. Die Konsequenz: Überall in der Stadt sind Polizeieinheiten unterwegs, die Maskenpflicht und Green Pass prüfen.

Fast alle in Bergamo sind inzwischen geimpft

Dabei ist die Impfbereitschaft vorbildlich: Fast alle Menschen in Bergamo haben die erste Impfung erhalten, über 90 Prozent die zweite. Das Boostern läuft auf Hochtouren. Schon im Februar sollen 500.000 Menschen in der Stadt und auf dem Land drumherum die dritte Spritze erhalten haben, so der Bürgermeister.

Sein Glück: Die Bevölkerung steht hinter ihm. Selbst wenn sich manchmal ein paar Querdenker in die Stadt verirren, nimmt kaum jemand Notiz davon.

Bergaµmo, Blick auf die Città Alta: Die Hochstadt liegt wie eine Trutzburg.
Bergaµmo, Blick auf die Città Alta: Die Hochstadt liegt wie eine Trutzburg. © AP | Felice Calabro'/AP Photo

Maske, impfen, Fieber messen: Dies ist der Dreiklang der Stadt, der einen geschäftigen Alltag möglich macht. Jugendliche treffen sich auf der Kunsteisbahn in der Stadt, die Schulbusse sind voll, die Trattorien auch. Auf der Piazza Vecchia vor der Basilica di Santa Maria Maggiore lassen sich Touristen die Stadtgeschichte erklären, bevor sie unter glitzerndem Weihnachtsschmuck im Eingang der Bibliothek Selfies schießen – immer mit Maske, auch wenn eine Mischung aus feuchtem Nebel und Schneeflocken unter den Zellstoff kriecht.

„Das Leben ist zurück“, sagt Marco Fracassetti, Inhaber einer kleinen Salumeria in der Altstadt. Gerne posiert er für ein Foto mit weißem Kittel vor seinem Laden und zeigt auf die hausgemachten Tortellini und luftgetrockneten Schinken im Fenster. Immer wieder grüßt er nach links und rechts, hält einen Schwatz mit einer Kundin. „Das Geschäft brummt“, sagt er.

„Das Geschäft brummt oben in der Città Alta von Bergamo“, sagt  Marco Fracassetti, Inhaber seiner kleinen Salumeria.
„Das Geschäft brummt oben in der Città Alta von Bergamo“, sagt Marco Fracassetti, Inhaber seiner kleinen Salumeria. © AP | Felice Calabro'/AP Photo

Kaum Arbeitslose, die Industrie boomt in der Region

„Wir arbeiten mehr als jemals zuvor“, erklärt Luca Fusco den Aufschwung. Er schiebt sich beim Spaziergang durch die Stadt den Kragen seines hellen Wollmantels hoch und weicht mit seinen Lederslippern Salz- und Schneeresten aus. Die Menschen in der Stadt sind auffallend gut gekleidet – und immer in Bewegung.

Für Don Roberto Trussardi, Direktor der örtlichen Caritas, löst ein enormer Schaffensdrang die große Erschöpfung aus der ersten Corona-Welle ab. „Arbeiten, arbeiten, arbeiten“, laute stärker denn je das Lebensgefühl in der Stadt, sagt der Pfarrer in seinem Büro am Stadtrand, das den Charme einer Behörde aus den 80er-Jahren verströmt.

Seine Organisation arbeitet mit Obdachlosen und Jugendlichen in schwierigen Lebenslagen, und von denen gibt es mehr als früher – „schließlich verloren so viele ihre Großeltern“. Und damit manchmal auch ihren Halt in der Gesellschaft, in der die ältere Generation einen hohen Stellenwert besitzt.

Tatsächlich steht die Region wirtschaftlich hervorragend da. Die Arbeitslosenquote liegt bei drei Prozent, Plastik- und Maschinenbau-Industrie boomen. „Bergamo steht in Italien und europaweit wirtschaftlich an der Spitze“, sagt Stadtsprecher Alleva. Der Export liege bereits über dem Niveau aus der Vor-Krisen-Zeit. Wenn es überhaupt einen Wermutstropfen gebe, dann sei es die teure Energie und der Rohstoffmangel.

Immer unterwegs: Die Bewohner von Bergamo in der Einkaufsstraße der Città Alta.
Immer unterwegs: Die Bewohner von Bergamo in der Einkaufsstraße der Città Alta. © AP | Felice Calabro'/AP Photo

Don Roberto Trussardi, der Caritas-Pfarrer, ist stolz auf den Fleiß der Menschen in Bergamo, die dieser „Atombombe“, wie er die erste Corona-Welle nennt, trotzten. Und doch hat er für die Zukunft einen Wunsch: Ein wenig möge etwas übrig bleiben von der schweren Zeit, als jeder um seinen Nächsten bangte oder trauerte. „Es gibt doch mehr im Leben als Arbeit“.

Das sieht auch Luca Fusco so. Er fragt seinen toten Vater, mit dem er so lange zusammenarbeitete, immer noch um Rat, erzählt ihm seine Sorgen. „Ich spreche mit der Urne, die im Bücherregal steht“, sagt er, „ich bin glücklich, dass mein Vater so nahe bei mir ist“.

Ich will, dass sich die vielen Fehler nicht wiederholen

Auf dem monumentalen Friedhof vor der Stadt, wo die Toten vom März 2020 ihr eigenes Feld haben, wollte er seinen Vater nicht bestatten. Er braucht das Gespräch – auch mit anderen Angehörigen der vielen Toten. Denn er hat Fragen: Wie konnte es so weit kommen? Warum kam der Lockdown so spät? Warum hat Bürgermeister Gori das Virus so lange unterschätzt? Warum nahm die Gesundheitsbehörde die frühen Klagen der Allgemeinmediziner nicht ernst? Welche Fehler machten die Krankenhäuser?

Fusco und sein Sohn gründeten schon kurz nach dem Tod des Vaters und Großvaters die Bewegung „Wir klagen an“ (Noi denunceremo). Inzwischen haben sich über Facebook 70.000 Menschen zusammengefunden. Mit deren Hilfe haben Luca und Stefano Fusco sowie die Anwältin Consuelo Locati ein 66-seitiges „Dossier des Versagens“ in der Staatsanwaltschaft von Bergamo deponiert.

Was sich Luca Fusco davon verspricht? „Ich will nicht, dass einzelne Menschen verantwortlich gemacht werden. Ich will auch nicht, dass jemand ins Gefängnis geht. Aber ich will, dass sich die vielen Fehler nicht wiederholen“.

„Wir haben alles im Griff, aber entspannt sind wir nicht“

Stefano Fagiuoli hofft, dass es nicht so weit kommt. Der Direktor der Gastroenterologie und Transplantationsmedizin gehörte im März 2020 zum Team der Medizinerinnen und Medizinier im Klinikum Papa Giovanni XXIII, die Tag und Nacht um das Leben so vieler Menschen kämpften. „Wir hatten Aufnahmekapazitäten für täglich 50 Menschen, doch es kamen 100“.

„Entspannt sind wir noch lange nicht“: Stefano Fagiuoli, Ärztlischer Direktor am Klinikum Papa Giovanni XXIII.
„Entspannt sind wir noch lange nicht“: Stefano Fagiuoli, Ärztlischer Direktor am Klinikum Papa Giovanni XXIII. © AP | elice Calabro'/AP Photo

Nichts hätten er und die anderen Ärztinnen und Ärzte gewusst. Wann müssen Patienten an die Ecmo, die künstliche Lunge? Wohin mit den Toten? Wie mit den Angehörigen umgehen? Umdrehen, umbetten: Wann muss wie was gemacht werden?

„Wir waren viel zu wenige“, sagt Fagiuoli. Jeder, der eine medizinische Ausbildung hatte, arbeitete nur für Covid-19-Patienten. „Die Fachrichtung war völlig egal“. Mehrmals täglich gab es Briefings über neue Erkenntnisse. 12 Prozent des Personals steckte sich an. Ein Arzt starb, ein anderer hing 57 Tage an der Ecmo, bevor er außer Lebensgefahr war.

Klar ist nur: „Wir müssen impfen, wir müssen boostern“

Fagiuoli selbst konnte irgendwann nicht mehr – und rief per Youtube um Hilfe. Sein Aufruf ging damals um die Welt. „Derzeit haben wir alles im Griff“, sagt der Arzt heute. Aber entspannt „sind wir noch lange nicht“. Denn auch in Bergamo lauere die Omikron-Variante. Klar sei derzeit nur: „Wir müssen impfen, wir müssen boostern“.

Die Menschen auf den Straßen wirken entspannter als der Arzt, sie blicken nach vorn. „Fast ist es wie früher“, sagt Massimo, der Zuckerbäcker, der auf dem Weihnachtsmarkt frittierte Küchlein verkauft. „Nur dass die Menschen jetzt nicht mehr so nahe an meinen Stand herankommen.“ Die Menschen von Bergamo: Sie haben eben noch ihre Toten im Herzen.