Berlin. Wird schon bald die Alarmstufe im Notfallplan Gas ausgerufen? Die Anwendung einer speziellen Preisregel könnte Gas dann noch teurer machen. Vorher muss es allerdings eine wichtige Feststellung geben.

Die Versorgungslage in Deutschland bleibt angespannt: Wird Erdgas bald noch teurer - und ohne Verzögerung?

Seit dem 21. Mai haben Gaslieferanten unter bestimmten Bedingungen zumindest eine gesetzliche Möglichkeit, von jetzt auf gleich alle ihre Verträge "anzupassen", sprich: die Preise heraufzusetzen. Der neue Paragraf 24 des Energiesicherungsgesetzes, genannt "EnSiG" macht es möglich. Aber nicht ohne Weiteres.

Worum geht es in dem Paragrafen?

Letztlich darum, dass Energieversorger wegen hoher Großhandelspreise nicht in die Knie gehen und durch eine Insolvenz die Versorgung ihrer Kunden gefährden. Mitunter müssen die Unternehmen wie etwa Stadtwerke zu aktuellen Preisen Erdgas hinzukaufen, um alle Kunden bedienen zu können. Gleichzeitig kann es sein, dass die Einnahmen aus den bestehenden Verträgen diese Mehrkosten nicht decken. Der Gesetzgeber erlaubt ihnen daher in dem Gesetz unter bestimmten Voraussetzungen, für alle ihre Verträge neue Preise festzusetzen. Damit es im Notfall schnell geht, sollen die neuen Preise schon eine Woche nach Ankündigung gelten.

Wann dürfen die Versorger das machen?

Zwei Voraussetzungen müssen erfüllt sein: Zum einen müssen Alarmstufe oder Notfallstufe im Notfallplan Gas ausgerufen worden sein. Zum anderen muss die Bundesnetzagentur auf dieser Grundlage eine "erhebliche Reduzierung der Gesamtgasimportmengen nach Deutschland" festgestellt haben. Diese Feststellung muss im Bundesanzeiger veröffentlicht werden. Erst dann dürfen die Unternehmen die Preise erhöhen. Das Gesetz benennt auch Regeln für das Zurück: "Sobald der Versorgungsengpass nicht mehr besteht, muss die Bundesnetzagentur diese Feststellung aufheben", sagt das Bundeswirtschaftsministerium. Das "Preisanpassungsrecht" entfalle dann.

Steht jetzt die Ausrufung der Alarmstufe bevor?

Das kann sein. Nach einem Bericht der Zeitung "Welt" bereitet die Bundesregierung die Ausrufung der Alarmstufe innerhalb weniger Tage vor. Wirtschaftsstaatssekretär Patrick Graichen habe die Energiewirtschaft am Montag auf den bevorstehenden Schritt vorbereitet, hatte die Zeitung am Dienstag unter Berufung auf die Branche berichtet. Der dpa wurde diese Darstellung in Kreisen der Energiewirtschaft bestätigt. Es gibt im Moment jedoch keinen Hinweis, dass die Bundesnetzagentur nach einer möglichen Ausrufung der Alarmstufe dann sofort die nötige Feststellung treffen wird. Beobachter gehen davon aus, dass dies aufgrund der Auswirkungen am Ende von der Politik entschieden wird.

Wie sehr dürften die Versorger die Preise anheben?

Das Gesetz lässt ihnen einigen Spielraum. Die Versorger dürfen die Preise auf ein "angemessenes Niveau" anheben. Dieses Niveau sei nach oben nicht gedeckelt, sagt der Energieexperte der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv), Thomas Engelke. "Die privaten Haushalte wären dann auch vor extrem hohen Gaspreisen nicht geschützt." Er betont, dass von der Regelung auch Kunden betroffen wären, die eine sogenannte Preisgarantie haben.

Mit welchen Mehrkosten ist zu rechnen?

Das kann niemand genau sagen. Schon jetzt muss laut Engelke ein Haushalt mit einem durchschnittlichen Jahresverbrauch von 20.000 Kilowattstunden Erdgas wegen der Preiserhöhungen der vergangenen Monate mit jährlichen Zusatzkosten in Höhe von 1000 bis 2000 Euro rechnen. "Wenn jetzt die Alarmstufe und die Feststellung der Reduzierung kämen, dann könnten noch weit höhere Zusatzkosten entstehen."

Wie haben sich die Preise im Großhandel zuletzt entwickelt?

Sie sind gestiegen, und zwar deutlich. Der Grund: In der vergangenen Woche hat Russland die Liefermengen nach Deutschland stark gesenkt und dies mit angeblich technischen Problemen begründet. Erstmals seit Jahrzehnten werden seitdem Lieferverträge mit deutschen Großhändlern nicht mehr erfüllt. Auch am Mittwoch kletterten die Preise weiter. Am niederländischen Handelsplatz TTF kostete im Juli zu lieferndes Erdgas am Nachmittag pro Megawattstunde rund 129 Euro. Am Montag vor einer Woche, also vor der Drosselung, hatte der Preis noch bei 83,40 Euro gelegen. Auch das war schon hoch. Langfristverträge waren in der Vergangenheit oft mit 20 bis 30 Euro abgeschlossen worden.

Was halten die Verbraucherschützer von den neuen Regeln?

Sie fordern Nachbesserungen am Gesetz. So sollen die Preiserhöhungen erst vier Wochen nach der Ankündigung wirksam werden dürfen, und nicht schon nach nur eine Woche. So lange müssten die Kunden auch die Möglichkeit einer außerordentlichen Kündigung haben, sagt Engelke. Das Gesetz sehe derzeit nur eine "unverzügliche" Kündigung nach Erhalt der Mitteilung vor. Auch müssten die Preise gedeckelt sein. "Bleibt das Gesetz so, ist völlig klar, dass die privaten Haushalte entsprechende Entlastungen brauchen, insbesondere in der kommenden Heizperiode." Nötig sei dann ein weiteres Entlastungspaket. Auch dürfe es dann keine sogenannten Gassperren geben für Kunden, die ihre Gasrechnung nicht mehr bezahlen können. "Das wäre eine Sicherheitsmaßnahme, um vor allem Haushalte mit niedrigen Einkommen zu schützen."

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