Arnstadt/Brotterode. Erinnerungen an das Fest bei der Verwandtschaft in Brotterode. Was meinen die Erwachsenen mit „Gemäch“?

Doris Vogt-Köhler aus Weimar öffnet gern „die Fenster in die Vergangenheit wie in einem Adventskalender.“ Die hier geschilderte Geschichte um das rätselhafte „Gemäch“ sei wahr, versichert sie:

Meine Eltern stammten aus Thüringen und bauten sich in Swinemünde ein neues Leben auf. Dann kam der Krieg. Sie mussten sich eine neue Bleibe suchen und alles bis dahin Geschaffene zurücklassen.

Wir fanden Unterkunft bei der Mutter meines Vaters in einem kleinen Dorf nahe Arnstadt.

Weihnachten. Es riecht nach Pulverschnee. Also auf nach Brotterode, wo die meisten Bekannten und Verwandten leben. Meine vier Jahre ältere Schwester kommt erschöpft vom Skifahren auf dem Galgenberg zurück. Jetzt geht es los. Tante Lydia fährt mich im Schlitten von der Inselsbergstraße 50 die ganze Strecke hinab zum Zainhammer. Trotz des selbst gehäkelten Leibchens mit den an Strumpfhaltern befestigten selbst gestrickten Schafwollstrümpfen friere ich mächtig. Auch mein Schafwollschlüpfer kratzt. Aber es ist ja Weihnachten, und der Weihnachtsmann ist unterwegs. Was soll er denken, wenn ich mich umhüllt von den vielen Decken an Stellen jucke, die doch bei den Erwachsenen als tabu gelten.

Am Zainhammer in Brotterode angekommen, duftet es schon nach Kaffee. Tante Lydia lässt mich einfach im Schlitten sitzen. Wie ein Maulwurf wühle ich mich heraus und verschlinge an der Kaffeetafel zwei Stücken Erdbeerroulade oder mehr. Mein Magen weigert sich, das ungewohnte Essen zu verdauen. Meine Mutter, die auch keinen Rahm vertragen kann, blockiert die Toilette. Die Hühner sind erfreut über ihr zusätzliches Futter, denn im Stall ist es warm, und ich kann der Erdbeerroulade noch eine bessere Verwertung als in meinem Magen anbieten.

Tante Christa aus Ruhla erntet beimSingen strafende Blicke für ihr„R“

Zurück in die gute Stube. Die Hausmusik hat begonnen. Die Kerzen brennen noch nicht am Weihnachtsbaum. Die Frauen hätten sie sonst mit ihren hohen Kirchenchorstimmen zum Flackern oder gar zum Erlöschen gebracht. Sie singen den Weihnachtshimmel hoch und runter, als wollten sie die Eiszapfen an den Bäumen zum Schmelzen bringen oder das Raureifgeäst zum Brechen. Opa Rudi dirigiert. Immer wieder schaut er strafend auf Tante Christa mit dem Akkordeon. Sie stammt aus Ruhla und holt das „R“ mehr aus dem Rachen, so dass das Gaumenzäpfchen wackelt. In Brotterode rollt man das „R“ mit der Zunge. Um sie zu ärgern, fragte er sie immer bei ihrem Besuch: „Christa, was machen deine Rosen?“ Dabei krächzt er das „R“ wie die Rühler.

Außerdem wollte mein Cousin Martin, ihr Sohn, uns einmal den noackschen Opa in der Zinkbadewanne zeigen und öffnete den Fensterladen zur Küche, wo jeden Sonnabend gebadet wurde. Der Ärger sitzt Opa heute noch in den Wirbeln.

Für mich ist es gut, denn ich bewege nur die Finger auf der Flöte. Einen Ton bringe ich nicht zustande. Wer hat schon einmal in eine Altflöte gekotzt?

Neben dem Baum mit Stearinkerzen steht ein Eimer Wasser

Der Star ist natürlich meine Cousine Silvi. Sie spielt auf einer halben Geige, die in Wirklichkeit aber die Form einer ganzen hat, „O Tannenbaum“. Dann werden die zwölf kleinen Stearinkerzen am Baum angezündet und der Eimer Wasser danebengestellt. Mit einem Windstoß wirbelt das Christkind herein.

Pfiffi bellt ganz erschrocken. Damit hatten wir nicht gerechnet, sonst war immer ein Weihnachtsmann gekommen, den wir nicht kannten und er uns auch nicht.

Was sollten wir jetzt für Sprüche aufsagen? Mit: „Lieber guter Weihnachtsmann, schau mich nicht so böse an, stecke deine Rute ein. Ich will auch immer artig sein.“, ging es wohl nicht. Das Christkind zupft eilig am Kostüm und Gesichtsschleier herum.

Der Sack fällt um, und Opa sammelt schnell wieder alles ein. Genug Zeit für mich, das Christkind genauer zu betrachten. Das Kleid hing früher als Gardine in der Guten Stube. Die himmelblauen Seidenstrümpfe kenne ich nicht. Aber der Sack ähnelt sehr den alten Übergardinen in der Küche. Die Flügel hatten noch vor Tagen der Weihnachtsgans gehört.

Entsprechend meiner körperlichen Verfassung stammele ich nur: „Liebes Christkind, mach geschwind, draußen bläst der Wind, und ich bin ein artiges Kind …“ So oder so ähnlich.

Ein brauner Trainingsanzug soll mir Freude bringen. Also wollen sie mich wieder zur Kur schicken. Die erste hatte ich ihnen ja vermasselt, weil meine Mutter mir eine giftgrüne Trainingshose von einer Arbeitskollegin mitgebracht hatte, die ich bis zum Kinn ziehen konnte und die hochgekrempelten Hosenbeine sahen aus wie Kränze, die man auf ein Grab legte. Aber ein Trainingsanzug gehörte zur Kurausstattung. Ich weigerte mich, dieses Ungetüm anzuziehen. Aus der Kur wurde nichts.

Statt des gewünschten Poesiealbums gibt es einen braunen Trainingsanzug

Dabei hatte ich mir ein Poesiealbum gewünscht – mit zwei Bögen Stammbildern. Die Blumenkörbchen hätte ich auf die erste Seite kleben und auf der anderen Seite die Sprüche meiner Freunde und Verwandten immer wieder lesen können.

Meine Schwester packt ein Paar neue Filzhausschuhe aus, weil sie die alten mit dem Nachttopf verwechselt hatte.

Ich sitze in der Ecke und kraule Pfiffi. Er hat so schöne lange Wuschelhaare. In der anderen Ecke sitzt mein kleiner Cousin. Er hat einen Schafstall bekommen und versucht, mit dem Kuchenmesser die Beine der Schafe zu kürzen, weil sie viel zu lang seien. Die anderen liefern sich draußen mit den Nachbarskindern eine Schneeballschlacht.

Auf dem Tisch stehen Teller mit Schmalzbroten. Die Frauen trinken Eierpunsch und die Männer Schnaps. Jetzt ist auch meine Tante Lydia wieder da …

Plötzlich wird Pfiffi ganz unruhig. Er spürt, in den Männern ist das Jagdfieber erwacht. Es geht los über die Straße in die Mühle. Die Männer haben sich mit allerhand Gerätschaften bewaffnet. Pfiffi spürt in der dunklen Mühle leise und fachmännisch die Ratten auf. Im Vorraum hat man eine Backstube errichtet. Dort sitze ich mit dem alten Rohmeiß auf dem Transportband. Der alte Rohmeiß ist ein Tüftler. Vieles hat er in der Mühle und der Backstube automatisiert. Ein Schalter öffnet die Backofentür, dann kommt der Schalter für das Transportband, wo die Backfrauen ihre großen runden Bleche mit den Kuchen oder Stollen darauf legen. Mit dem dritten Schalter kann man die Ofentür öffnen, wenn sich die eingestellte Backzeit mit lautem Klingeln bemerkbar gemacht hat.

Aber ich nehme Abstand von dem alten Rohmeiß. Er hat mich nie mitgenommen, wenn er in Brotterode mit dem Pferdewagen seine Brote ausfuhr. Meine Ärmchen könnten keinen Sechspfünder tragen. „Na, Känd, das werd nüscht.“

Ein Ratte rettet sich in Opa Hosenbein und wird von ihm erdrückt

Aufgeregt mit wedelndem Schwanz legt Pfiffi die toten Ratten in einer Reihe ab. Wo er sich diesen Ordnungssinn wohl abgeguckt hat? Plötzlich ein tiefes „Hohoho“. Ich denke, den Weihnachtsmann gibt es wirklich. Eine Ratte flüchtete in Opas Hosenbein. Dort hat er sie mit den Händen erdrückt. Die Jagd ist beendet.

Das habe ich alles verstanden. Aber dass sie an sein „Gemäch“ wollte, verstehe ich nicht. Den Frauen erzählt er: „Dös wor ä Wibchen, or ich hun se nich dru gelossen a mei Gemäch.“

Unter lautem Gelächter brechen wir auf. Natürlich mit einem Spruch der Männer vermutlich aus Kriegszeiten: „Allewi brech mer uff, sogten de Geschwüre!“ Das Wort „Geschwüre“ haben sie noch nicht ins „Plattdütsch“ eingeordnet.

Tante Lydia zieht mich mit dem Schlitten bergauf in die Inselsbergstraße. Meine Schwester und ich schlafen in der Kleinen Kammer mit den alten Bauernbetten. In jedem Bett liegt ein Federbett unten und eins oben, angewärmt von der Wärmflasche.

Ich frage meine Schwester, wo Opa sein Gemäch hätte. So ungefähr weiß ich es ja. Sie antwortet unwirsch: „Frag ihn doch, und außerdem heißt es Geschlecht.“ Opa zu fragen, traue ich mich nicht, aber ich weiß, wo das große Doktorbuch versteckt ist, und langsam träume ich mich in den Zauberweihnachtswald.

Schreiben Sie uns Ihre Geschichte zum Advent – gern mit Fotos (mindestens1 MB) – bitte mit Adresse und Telefonnummer an leserbriefe@tlz.de