Berlin. Der Wirkstoff Semaglutid soll beim Abnehmen helfen – für Selbstzahler bald auch hier. Experten sehen „Gamechanger“ mit Restrisiko.

Anfang des Jahres hat das Medikament „Wegovy“ für viel Aufsehen gesorgt. Es wurde in sozialen Netzwerken als Abnehmspritze der Stars gefeiert. Gleichzeitig bezeichnete es die Fachwelt als „Gamechanger“ in der Behandlung von krankhaftem Übergewicht. In etwa einem Monat soll es nun auch offiziell in Deutschland zur Behandlung von Adipositas verfügbar sein. Zunächst hatten Experten auf Mai oder Juni spekuliert.

Ende Juli soll die Substanz in ausreichender Menge für den deutschen Markt zur Verfügung stehen und kann dann in die Verordnung gehen“, bestätigt Jens Aberle, ärztlicher Leiter der Sektion Endokrinologie, Stoffwechsel, Diabetologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) und Präsident der Deutschen Adipositas-Gesellschaft. Seit Anfang 2022 ist das Medikament in der EU zugelassen.

Es enthält den Wirkstoff Sema­glutid, der in Kombination mit Ernährungsumstellung und Bewegung die Gewichtsreduktion und -kontrolle unterstützt. „In der Tat hat der Wirkstoff therapeutisch neue Maßstäbe gesetzt“, meint ­Aberle.

podcast-image

Übergewichtige verloren durchschnittlich 15 Prozent ihres Gewichts

Bei einer Studie, deren Ergebnisse im „New England Journal of Medicine“ veröffentlicht wurden, verloren die adipösen Teilnehmerinnen und Teilnehmer durchschnittlich 15 Prozent ihres Körpergewichts. Für einen Zeitraum von 68 Wochen bekamen sie begleitend zu Lebensstiländerungen Semaglutid – nach schrittweiser Aufdosierung wöchentlich 2,4 Milligramm.

„Auch wenn es in der Realität vermutlich eher Richtung zehn Kilogramm gehen wird, ist das immer noch deutlich mehr, als wir es bislang von anderen Medikationen kennen“, erklärt Endokrinologe und Ernährungsmediziner Andreas Pfeiffer von der Berliner Charité.

Und er sieht noch einen weiteren Vorteil: Patientinnen und Patienten, die den Wirkstoff bereits heute off Label erhalten – also gegen eine Krankheit, für die er ursprünglich gar nicht zugelassen wurde –, seien sehr viel weniger aufs Essen fixiert. „Der Druck ist weg. Ihnen geht es psychisch sehr viel besser, und sie laufen deutlich lockerer durchs Leben“, erzählt Pfeiffer.

Übergewicht und die Folgen für unsere Gesundheit

weitere Videos

    Kosten, Nutzen und Risiken vor Verschreibung gut abwägen

    Doch neben potenziellen Nebenwirkungen wie etwa Kopfschmerzen, Übelkeit oder Verstopfung gibt es weitere Wermutstropfen: „Die Krankenkassen werden in Deutschland nach aktuellem Stand der Dinge nicht pflichtig sein, das Medikament zu erstatten“, so der Endokrinologe. Sprich: Betroffene müssen das Medikament – zumindest vorerst – aus eigener Tasche zahlen.

    In den USA, wo das Medikament bereits verfügbar ist, liegt der Listenpreis für die Behandlung pro Monat bei umgerechnet über 1000 Euro. Kosten in dieser Höhe werden in Deutschland vermutlich eher nicht anfallen. Derselbe Wirkstoff wird unter dem Medikamentennamen „Ozempic“ bereits zur Behandlung von Typ-2-Diabetes eingesetzt – mit maximal einem Milligramm Semaglutid pro Woche jedoch nur mit der halben Dosierung.

    „Hier beträgt der Listenpreis rund 220 Euro für eine Drei-Monats-Packung“, sagt Pfeiffer. „Und das ist aus meiner Sicht im Vergleich zu anderen Medikamenten nicht wahnsinnig teuer.“ Aberle geht angesichts der Preise in anderen europäischen Ländern bei „Wegovy“ von etwa 250 bis 300 Euro pro Monat aus. „Wirklich wissen wir es erst, wenn die Ware in die deutschen Apotheken geliefert wird.“

    „Das muss man sich als Betroffener natürlich erst mal leisten können“, räumt Aberle ein. Zwar gebe es immer den gedanklichen Einwand, dass die Menschen am Ende dann auch weniger Ausgaben für Lebensmittel hätten, so der Mediziner. Doch auch wenn das in gewisser Weise stimme, sei dies natürlich schlecht skalierbar. „Erst mal muss man das Geld in der Apotheke bezahlen können“, so Aberle. „Das ist teuer, und darum wird es am Ende gehen.“

    Experten: Kostenübernahme mitunter durchaus sinnvoll

    Mit Blick auf die Zahl der Betroffenen erwartet Pfeiffer auch per­spektivisch Zurückhaltung, was die Kostenübernahme angeht. Immerhin gilt in Deutschland bereits etwa jeder vierte Erwachsene als adipös. Und da krankhaftes Übergewicht als chronischer Zustand eingeordnet wird, ist davon auszugehen, dass auch eine Medikation vermutlich dauerhaft erfolgen müsste, um einen Jojo-Effekt zu vermeiden.

    Auf der anderen Seite könnte laut den Experten aus Sicht des Gesetzgebers und der Krankenkassen eine Kostenübernahme am Ende trotzdem durchaus sinnvoll sein. „Adipositas ist verknüpft mit dem metabolischen Syndrom“, erklärt Pfeiffer. Sprich, infolge des Übergewichts kommt es häufig zu hohem Blutdruck, mit Fett- und Zucker-Stoffwechselstörungen, auch unter der Schwelle von Diabetes.

    „Mit dem Medikament könnten also auch viele für das System kostenintensive Erkrankungen vermieden werden“, schätzt Pfeiffer. Aberle betont: „Wir hoffen, dass die rechtlichen Regelungen überarbeitet werden, sodass zumindest ein Teil der Betroffenen eine Kostenübernahme erhalten kann. Wir haben Entscheidungsträger im Gesundheitsausschuss für das Thema sensibilisiert.“ Allerdings sei noch nichts spruchreif, so Aberle.

    Gedacht ist das Medikament „Wegovy“, das wöchentlich mittels Pen unter die Haut gespritzt wird, für adipöse Personen mit einem Body-Mass-Index (BMI) von 30 oder höher. Ärzte können es ergänzend auch Übergewichtigen mit einem BMI ab 27 mit mindestens einer gewichtsbedingten Begleiterkrankung verschreiben.

    Gesund abnehmen ab 40- So geht’s

    weitere Videos

      Nebenwirkung: Womöglich erhöhtes Risiko für Schilddrüsenkrebs

      Die Europäische Arzneimittel-Behörde (EMA) hatte im April noch einmal auf ein womöglich erhöhtes Risiko für Schilddrüsenkrebs durch Einnahme von Medikamenten mit den Wirkstoffen Semaglutid, aber auch Dulaglutid, Exenatid, Liraglutid und Lixisenatid bei Patienten mit Typ-2-Diabetes hingewiesen. Dabei nimmt sie Bezug auf eine Studie, die laut Pfeiffer mehrere vorherige Studien und Daten auch zum Wirkstoff Sema­glutid ergänzt. Alle betroffenen Hersteller sollen nun zur Klärung entsprechendes Datenmaterial zur Verfügung stellen.

      „Insgesamt ist es möglich, dass eine etwas erhöhte Inzidenz von Schilddrüsenkarzinomen auftritt unter GLP-1-Rezeptoragonisten, zu denen auch Semaglutid zählt“, räumt auch Pfeiffer ein. Diese sei aber in der absoluten Anzahl gering. Er rät daher, die Schilddrüse unter der Therapie zu überwachen.

      Zudem gebe es auch eine dominant-erbliche Form von Schilddrüsenkarzinomen, gibt Pfeiffer zu bedenken. Bei den Patienten müsse – wie in der Medizin ohnehin üblich – immer eine Abwägung bezüglich der Risiken und der Vorteile der Medikation erfolgen.

      „Deshalb ist die Aufklärung über dieses Risiko angemessen“, so Pfeiffer. Aberle ergänzt: „Derzeit besteht die Überzeugung in der Fachwelt, dass der Nutzen der GLP-1-Rezeptoragonisten ein potenzielles Risiko überwiegt.“