Berlin. Während sich in Deutschland die Omikron-Welle aufbaut, ist eine Entscheidung nicht in Sicht. Die politischen Mehrheiten sind ungewiss.

Kommt sie nun, die allgemeine Corona-Impfpflicht in Deutschland? Oder kommt sie doch nicht? Die Debatte darüber gleicht einer anhaltenden Achterbahnfahrt: Bis in den vergangenen Sommer hinein schlossen Regierungspolitiker in Bund und Ländern eine allgemeine Impfpflicht im Kampf gegen die Pandemie vehement aus. Auf keinen Fall werde es dazu kommen.

Ab Herbst dann – in der rollenden Delta-Welle – der Kursschwenk. Mehr und mehr Politiker sowie Fachleute schwenkten plötzlich um und sprachen sich dafür aus.

Der Chef der neuen Ampelkoalition, Olaf Scholz (SPD), kündigte Ende November in Bezug auf eine Impfpflicht an, er fände „es richtig, wenn sie für alle gilt, ab Anfang Februar, Anfang März“.

Doch inzwischen scheint klar, dass dieser Zeitplan nicht zu halten ist. Vor allem unter Liberalen gibt es Zweifel an Umsetzbarkeit, Nutzen und Rechtmäßigkeit des Vorhabens. Kanzler Scholz ließ zwar am Montag über eine Regierungssprecherin mitteilen, dass er von einer Impfpflicht weiterhin überzeugt sei. Den weiteren Zeitplan lege aber der Bundestag fest.

Die oppositionelle Union will sich damit aber nicht zufrieden geben. Der Druck auf die Ampel wächst.

Wie sind Verfahren und Zeitplan?

Geplant ist, dass aus dem Parlament fraktionsübergreifend Vorschläge für eine gesetzliche Regelung kommen sollen, nicht aus der Regierung. Es soll eine Gewissensentscheidung geben. Die Fraktionen von Grünen und SPD planen derzeit, bis Ende März mit den parlamentarischen Beratungen durch zu sein.

Das bedeutet aber zugleich, dass die allgemeine Impfpflicht keine Lösung mehr sein wird im Kampf gegen die rapide anschwellende Omikron-Welle. Die Koalition hat die Erwartungen bereits deutlich zurückgeschraubt: „Wir können damit erreichen, dass wir im Herbst nicht vor dem gleichen Problem stehen“, sagte Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) am Wochenende.

Hohe rechtliche Hürden, politische Bedenken und Probleme bei der Umsetzung: Ob und wann die allgemeine Impfpflicht gegen Corona kommt, ist unklar.
Hohe rechtliche Hürden, politische Bedenken und Probleme bei der Umsetzung: Ob und wann die allgemeine Impfpflicht gegen Corona kommt, ist unklar. © AP | Markus Schreiber

Eine erste Debatte im Bundestag ist nun erst für Ende Januar geplant. SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert sprach am Montag von einem „ambitionierten Zeitplan“, der aber innerhalb „weniger Wochen und Monate“ zu einem Ergebnis führen solle.

Der Impfpflichtgegner Wolfgang Kubicki (FDP) begrüßte, dass die Diskussion „jetzt mit der nötigen Ruhe“ geführt werde. „Es ist kein Beinbruch, dass sich der ursprünglich vorgesehene Zeitplan nicht realisiert – im Gegenteil: Es gibt allen Abgeordneten die Möglichkeit, sich besser für die Debatte argumentativ zu rüsten“, sagte der Bundestagsvizepräsident unserer Redaktion. Kubicki bekräftigte: „Ich halte die Einführung der allgemeinen Impfpflicht für falsch.“

Welche Vorschläge zu einer Corona-Impfpflicht gibt es bisher?

Kubicki hat einen Antrag vorgelegt, der eine allgemeine Impfpflicht grundsätzlich ablehnt. Sein FDP-Fraktionskollege Andrew Ullmann schlägt dagegen eine Verpflichtung für alle Menschen ab 50 Jahren vor. Zudem gibt es in der SPD Sympathie für eine Impfpflicht ab 18.

Was plant die Opposition?

Die Union will nach Worten des CSU-Gesundheitspolitikers Stephan Pilsinger einen eigenen Vorschlag machen. „Unser Ziel ist es, einen eigenen Unionsantrag auf den Weg zu bringen“, sagte Pilsinger unserer Redaktion. Wie der FDP-Politiker Ullmann sprach sich Pilsinger für eine Impfpflicht für alle ab 50 aus. Er nehme in der Union Sympathien für eine solche Regelung wahr.

Da der größte Teil der Covid-19-Intensivpatienten älter als 50 sei, könne man mit einer Impfpflicht ab diesem Alter „das Gesundheitssystem effektiv schützen und dennoch den Freiheitseingriff für die Gesellschaft so gering wie möglich halten“, sagte der CSU-Politiker zur Begründung. Zugleich betonte Pilsinger, die Abgeordneten der Union würden sich „nicht an den Gruppenanträgen anderer Fraktionen beteiligen und ihnen voraussichtlich auch nicht zustimmen“. Ob es eine Mehrheit für einen der Vorschläge gibt, ist offen. Somit könnte die Impfpflicht am Ende scheitern.

Sind Kompromisse im Gespräch?

Ja. Der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen hat nun ein zweistufiges Vorgehen vorgeschlagen: Zunächst könne die bereits beschlossene, einrichtungsbezogene Impfpflicht auf andere Bereiche wie Feuerwehr, Polizei oder Justizvollzug ausgeweitet werden, um dann so schnell wie möglich zur allgemeinen Impfpflicht zu kommen.

Eine Impfpflicht für Beschäftigte in Einrichtungen mit besonders schutzbedürftigen Menschen wie Pflegeheimen und Kliniken war bereits im Dezember beschlossen worden. Diese müssen bis Mitte März 2022 nachweisen, dass sie geimpft oder genesen sind.

Welche Probleme sind in der Praxis zu erwarten?

Angesichts immer neuer Virusvarianten stellt sich vor einer rechtlichen Regelung die Frage, ab wann ein Mensch als geimpft gilt. Nach zwei Impfungen? Nach dem Booster? Oder doch erst nach einer auf die letzte Mutante angepassten Spritze? Wenn jeder neue Piks immer nur für wenige Monate schütze, spreche das gegen eine Impfpflicht, gab Justizminister Marco Buschmann (FDP) unlängst zu bedenken.

Aber auch in der praktischen Umsetzung sind Probleme absehbar. Die beginnen mit der Datenlage über den Impfstatus der Bürger: Einem zentralen Impfregister stehen hohe rechtliche Hürden entgegen, sodass viele Politiker darin keine Lösung sehen. Ein Verstoß gegen die Impfpflicht dürfte als Ordnungswidrigkeit eingestuft und mit einem Bußgeld belegt werden. Ohne Impfregister ist es für die Behörden aber schwer, Verstöße gegen die Impfpflicht überhaupt zu ahnden.

Kühnert sieht „stichprobenartige Kontrollen bei allen sich bietenden Gelegenheiten im Alltag“ als Mittel zur Durchsetzung der Impfpflicht. Ob sich aber so die Impfquote entscheidend erhöht, müsste sich erst noch zeigen.

Gibt es Vorbilder in anderen EU-Staaten?

Italien gilt derzeit vielen als Vorbild. Dort müssen sich seit Sonnabend Menschen, die älter als 50 Jahre sind, gegen Covid-19 immunisieren lassen. Ab dem 1. Februar droht eine Geldstrafe für diejenigen, die sich entweder nicht die erste oder eine der Folgeimpfdosen verabreichen lassen.

Auch Österreich schreitet in diese Richtung. Läuft alles nach Plan der Regierung in Wien, so befindet sich die Impfpflicht im Endspurt. Mitte Februar soll eine Corona-Impfpflicht in Kraft treten. Dann sollen alle ungeimpften Personen einen Brief mit dem Aufruf erhalten, sich impfen zu lassen. Nun aber gerät das Gesetz ins Wanken.

Die staatliche Gesundheitsdaten-Gesellschaft und die Kommunalbehörden melden organisatorische Zweifel an. Und wegen Omi­kron wird auch in Österreich der Sinn einer Impfpflicht neu bewertet.