Hamm/Berlin. Eine Familie aus Hamm verlor Mutter und Oma an Corona. Die Überlebenden erzählen von ihrer Trauer und wie das System sie im Stich ließ.

Familie Reitmayer war mal zu viert, Vater, Mutter, Großmutter und Tochter. Im Herbst waren sie immer zusammen an der Nordsee. Den letzten Herbsturlaub jedoch verbrachten Alexander Reitmayer und seine Tochter Romana allein auf Sylt. Die beiden anderen sind tot. Ihre Familie hat sich halbiert, denn die Mutter und die Großmutter sind zwei von rund 114.000 Todesopfern der Corona-Pandemie in Deutschland.

Dabei waren die Reitmayers von Anfang an vorsichtig, früher sogar als viele andere. Alexander Reitmayer arbeitet in der Hygienebranche, er wusste, wie gefährlich sich die Pandemie entwickeln könnte. Seine Tochter Romana hat schon Anfang 2020 auf Besuche bei der Familie verzichtet. „Wir waren hoch sensibilisiert, als alle anderen noch gelächelt haben“, sagt er.

Corona: Gesundheitsbehörden überlastet, Hilfe bleibt aus

Infiziert hat sich die Familie aber trotzdem. Alexander Reitmayer, seine Frau Gaby und seine Schwiegermutter, die bei ihnen mit in ihrem Haus in Hamm lebte, erkrankten Anfang November 2020 an dem Coronavirus. Überlebt hat es nur der heute 63-jährige Alexander Reitmayer.

Er erzählt von der körperlichen Tortur, den Gliederschmerzen, dem Fieber – aber auch von einem System, das einer Familie in Not Hilfe verweigert hat. „Wir haben einen ohnmächtigen Staat erlebt, eine ohnmächtige Gesundheitsbehörde und ohnmächtige Ärzte“, sagt er. „Hilfeleistungen, die wir gebraucht haben, sind konsequent verweigert worden.“

November 2020 – das war der Beginn des sogenannten Lockdown Light. Es galten Kontaktbeschränkungen, der Einzelhandel war geschlossen, Sportvereine und Gastronomie ebenso. Die Inzidenz lag damals bei ungefähr 125, verstorben waren bis dahin fast 11.000 Menschen. Niedrige Zahlen aus heutiger Sicht, ein Jahr später. Und dennoch war das Gesundheitssystem bereits stark belastet.

Coronaverdacht: Ambulante Pflege wird eingestellt

Es fing an mit der Schwiegermutter, 93 Jahre alt, Pflegestufe 1, angewiesen auf ambulante Betreuung. Sobald der Verdacht da gewesen sei, dass es in dem Haushalt Coronafälle gebe, sei die Unterstützung eingestellt worden, erzählt Alexander Reitmayer. Gepflegt werden musste sie weiterhin. Aber wie soll das funktionieren, wenn gleichzeitig Abstand gehalten werden muss? „Das halte ich für ein Theoretikum“, sagt Alexander Reitmayer.

Anrufe bei Behörden blieben erfolglos, man habe sogar mit Sarkasmus reagiert auf die Bitten, dass ein Arzt vorbeikommen möge. Tochter Romana hat das aus der Ferne mitbekommen. „Meine Mutter hat mich heulend angerufen und gesagt: Romana, wir kriegen keine Hilfe, wir telefonieren uns die Finger wund“, erzählt die 33-Jährige. „Das kann nicht sein.“

93-Jährige Frau vor der Haustür abgesetzt

Per Notruf konnte ihre Großmutter schließlich ins Krankenhaus gebracht werden – nur um am selben Tag wieder zurückgebracht zu werden. „Man hat eine 93-jährige Frau um Viertel vor 10 ohne Ankündigung vor die Haustür gesetzt“, sagt Romana Reitmayer. „Sie haben geklingelt und sie da stehen gelassen, während sie sich erbricht.“

Dieser Zeitung sagte das Krankenhaus, man habe die 93-Jährige ausführlich untersucht, habe aber „keine Notwendigkeit für eine stationäre Behandlung“ gesehen. Die Belastung durch die Corona-Pandemie habe keinen Einfluss auf die Entscheidung gehabt, es sei rein nach medizinischen Kriterien beurteilt worden.

Ein anderes Krankenhaus nahm Romana Reitmayers Großmutter dann zwei Tage und mehrere Anwaltsandrohungen später endlich auf und sie konnte bleiben. Romana Reitmayer hoffte, dass ihre Eltern sich nun um sich selbst kümmern und regenerieren könnten. Tatsächlich rief ihre Mutter an, es ging ihr besser. „Sie hat gesagt: Eine Sorge kann ich dir nehmen. Ich bin auf dem Weg der Besserung.“

Tochter Romana begleitet den Sterbeprozess

Vier Stunden später fand Alexander Reitmayer seine Frau im Flur, da war es eigentlich schon zu spät. Der Notarzt musste sie wiederbeleben, der Arzt im Krankenhaus ein zweites Mal, dann wurden die lebenserhaltenden Maßnahmen eingestellt. Gleichzeitig fuhr Romana Reitmayer in der Nacht zum Krankenhaus. Sie musste draußen bleiben, stand mit dem Telefon am Ohr auf dem Parkplatz, versuchte von drinnen etwas über den Zustand ihrer Mutter zu erfahren. Als es mit ihr zu Ende ging, durfte sie rein.

Für Romana Reitmayer begann damit “das schlimmste Wochenende”, wie sie sagt. Ihre Mutter war gestorben, ihre Großmutter lag im gleichen Krankenhaus ebenfalls im Sterben, ihr Vater zu Hause mit schweren Symptomen und gefährlichen Vorerkrankungen. Er erfuhr von seiner Tochter, dass seine Frau gestorben war, beide trennte dabei die gläserne Terrassentür. „Etwas erniedrigenderes, menschenunwürdigeres kann man gar nicht machen“, sagt Ramona Reitmayer. „Sich nicht in den Arm nehmen zu können und aus der Entfernung so eine Botschaft überbringen zu müssen.“

Nur eine Notlüge bringt Alexander Reitmayer ins Krankenhaus

Es kostete Romana Reitmayer viel Mühe und viele Diskussionen, ihren Vater ins Krankenhaus zu bekommen. Sie brauchte eine Überweisung vom Hausarzt, doch der war im Urlaub. Die Vertretung wollte ohne Krankenkassenkarte nichts tun, an die kam sie aber nicht ran.

Schließlich war es der Rettungsdienst, der half – aber nicht wegen der Covid-Erkrankung. Denn Alexander Reitmayers Sauerstoffsättigung war noch zu gut. Seine Tochter bestand auf eine Behandlung: „Meiner Mutter wurde auch gesagt, dass es ihr gut geht, und dann ist sie innerhalb von Stunden gestorben.“

Eine Notlüge bringt dann den Erfolg: „Ich habe irgendwann einfach gesagt, okay, dann hat er einen Rückfall von Leukämie. Dann ist er tatsächlich mitgenommen worden.“ Zum Glück, denn am nächsten Tag passierte genau das, wovor Vater und Tochter Angst hatten: dass die Virusinfektion die Leukämie triggert. „Dann lagen da vier Ärzte und Krankenschwestern über mir und haben versucht, dass ich wieder Sauerstoff bekomme“, sagt Alexander Reitmayer. Zu Hause hätte er das womöglich nicht überlebt.

Coronaleugner: Schmerzliche Diskussionen im Bekanntenkreis

Wochen später kam er zurück in das viel zu große, leere Haus. Seine Tochter hatte sich um die Beerdigungen gekümmert, allein. Trotz der Kontaktbeschränkungen gab es eine Trauerbegleitung. Freundinnen und Freunde der Familie, sogar professionelle Trauerbegleiter aus dem beruflichen Umfeld von der Kita-Leiterin und Supervisorin Gaby Reitmayer.

Doch es gab auch diejenigen im Bekannten- und Freundeskreis, die Corona nicht ernstnahmen, die sich nicht impfen ließen, die vermuteten, dass Gaby Reitmayer an etwas anderem als Corona gestorben sein müsse. Das seien schmerzliche Diskussionen, sagt Alexander Reitmayer, vor allem wenn selbst eine Geschichte wie die seiner Familie kein Umdenken verursache. „Was muss denn eigentlich im direkten Umfeld noch passieren, um die Leute wachzurütteln?“

Alexander und Romana Reitmayer sind beide geimpft, mittlerweile auch geboostert. Für die 33-Jährige war vor allem die erste Impfung ein emotionaler Moment. „Da liefen die Tränen nur runter“, sagt sie. Denn ihre Mutter und ihre Großmutter konnten sich nicht impfen lassen. Sie erkrankten nur wenige Wochen bevor die ersten Dosen in Deutschland verteilt wurden.

"Wie viele Jahre wollen wir das denn noch weiterspielen?"

Heute sterben viele, die freiwillig ungeimpft sind. „Mich macht das wütend“, sagt Romana Reitmayer. Impfen sei eine persönliche Entscheidung, aber es gehe ums Gemeinwohl. „Da muss man einfach mutig sein und den Schritt wagen. Wir drehen uns gerade im Kreis. Wie viele Jahre wollen wir das denn noch weiterspielen?“

Beide sind frustriert, nicht nur wegen der Impfgegner, sondern auch wegen der Politik, die nicht konsequent genug handeln würde, aus Angst, sich unbeliebt zu machen. Es könne nicht sein, dass eine Minderheit bestimme, was die vernünftige Mehrheit machen solle, meint Alexander Reitmayer. „Dann ist es halt unangenehm, die Regeln durchzuboxen. Aber dann kommen wir mal ein, zwei, drei Schritte weiter auf ein Level, wo wir dem Virus professioneller und effektiver entgegentreten können.“

Vater Alexander mit seiner Tochter Romana Reitmayer erzählen ihre Geschichte über das Sterben und den Tod. Vor einem Jahr starben Mutter und Grossmutter an Corona.
Vater Alexander mit seiner Tochter Romana Reitmayer erzählen ihre Geschichte über das Sterben und den Tod. Vor einem Jahr starben Mutter und Grossmutter an Corona. © Jakob Studnar / Funke Foto Services

Lockdown: Lieber kurze harte Maßnahmen ergreifen

Er selbst hofft, dass die Politik bundesweit einheitliche Regeln umsetzt, am besten 2G oder 2G+. Aber: „Es steht und fällt alles mit der Kontrolle. Was nützen uns die tollsten Gesetze, wenn wir keine Instrumentarien haben, sie zu kontrollieren.“ Auch eine Impfpflicht würde der 63-Jährige begrüßen.

Er sieht es als das geringere Übel in einer schlimmen Situation, eine „Gradwanderung“. Aber am Ende müsse für die Allgemeinheit ein Ergebnis erzielt, ein Weg aus der Pandemie gefunden werden. „Im Moment wird immer nur dann reagiert, wenn die Inzidenzen gerade schlecht aussehen“, sagt er. „Jetzt haben wir dieselbe Situation wie vor einem Jahr, es hat sich doch nichts verändert.“

Corona: Leben in der "Schrumpffamilie"

Andere europäische Länder sind bereits in den Lockdown gegangen, die Niederlande zum Beispiel, London verhängte den Katastrophenfall. „Da können wir jetzt nicht warten.“ Alexander Reitmayer ist selbst in der Wirtschaft tätig, er kennt die Auswirkungen eines Lockdowns, trotzdem wäre es ihm lieber, wen jetzt einmal alles runtergefahren würde, damit sich die Lage auf Dauer verbessert. Tauschen wollen würde er mit den Politikerinnen und Politikern aber nicht.

Alexander Reitmayer und seine Tochter haben ihren Urlaub an der Nordsee in diesem Jahr bewusst geplant. Nicht nur ist es ruhig und abgelegen, der Ort soll ihnen auch helfen, gerade weil sie dort immer zusammen Urlaub gemacht haben, mit der Trauer klarzukommen, jedes Fest, jeden Geburtstag zu feiern, jedes Ritual beizubehalten. Nur eben in der „Schrumpffamilie“, wie Alexander Reitmayer es nennt. Das sei zwar schwer und bedrückend, aber er hofft dadurch auf Erleichterung. „Dann gibt’s halt mal Tränen, aber danach gibt’s auch wieder Zukunft.“