Berlin. Deutschland befindet sich in der vierten Welle und der Herbst naht. Welche Entwicklungen können wir erwarten? Droht ein neuer Lockdown?

Seit gut zwei Wochen sind die Corona-Infektionszahlen in Deutschland relativ stabil – sogar leicht rückläufig. Was bedeutet das für kommenden Wochen? Wie wird der Herbst in Deutschland aussehen und was erwartet Ungeimpfe? Ein Überblick.

Corona: Warum steigen die Infektionszahlen nicht?

Seit etwa zwei Wochen befinden sich die Corona-Infektionszahlen auf einem Plateau und sind zuletzt sogar leicht zurückgegangen. Aus Sicht des Saarbrücker Experten für Corona-Prognosen Thorsten Lehr beruht die Entwicklung auf mehreren Effekten: Zum einen ebbe die Zahl der Reiserückkehrer langsam ab – und damit auch die Zahl der eingeschleppten Infektionen.

Zum anderen seien in vielen Bundesländern nach den Sommerferien zunächst die Infektionszahlen bei Schülern explosionsartig angestiegen. „Dieser Anstieg ist durch die Durchführungen von Tests in der Schule und dem Entdecken von in die Schule getragenen Infektionen zu erklären und nicht durch unkontrollierte Infektionen in der Schule“, betont der Experte.

Auch vor einem Jahr sei die Inzidenz leicht abgesunken und auf konstantem, etwas niedrigerem Niveau wie jetzt verharrt, bevor sie Ende September wieder stark angestiegen sei. „Bei der aktuellen Impfsituation und den gelockerten Kontaktbeschränkungen ist ein ähnlicher Anstieg Ende September, Anfang Oktober wieder erwartbar“, warnte Lehr.

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Was erwartet Deutschland im Herbst 2021?

Auch wenn die Zahlen gerade rückläufig sind, „für den Herbst bedeutet das aber noch keine Entwarnung“, meint Viola Priesemann, Physikerin und Leiterin einer Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. „Das bedeutet überhaupt nicht, dass wir nicht noch im Herbst eine große Welle bekommen können.“ Geimpfte Personen seien aber sehr gut geschützt – der aktuelle Anstieg betreffe vor allem die Personen, die nicht immunisiert sind.

Auch die aktuelle Impfrate in Deutschland biete noch keine Sicherheit vor hohen Infektionszahlen. „Israel mit einer ähnlichen Impfquote zeigt uns, dass man trotzdem Inzidenzen deutlich über 500 erreichen kann“, sagt die Physikerin im Gespräch mit unserer Redaktion.

Warum könnten die Zahlen im Herbst wieder ansteigen?

Das liegt zum einem an der Impfquote. Diese ist in den Augen von Thorsten Lehr, Professor für Klinische Pharmazie an der Universität des Saarlandes, noch immer viel zu niedrig. „60 Prozent reichen nicht aus“, so der Experte für Corona-Prognosen auf Anfrage. „Wir haben noch immer ein hohes Infektionspotenzial.“

Zum anderen spielen saisonale Effekte eine Rolle, wie etwa das Wetter, Tageslicht und Sonnenstunden. „Zum einen gehen die Leute dadurch mehr in Innenräume“, erläutert Lehr. Zum anderen seien aber auch die Abwehrkräfte der Menschen in den Wintermonaten meist weniger stark – eine Infektion damit wahrscheinlicher. Es ist der gleiche Effekt wie bei der sogenannten „Grippe-Saison“. Hinzu kommt: „Bei kalten Temperaturen haben Aerosole mehr Möglichkeiten in der Luft zu verharren“, so der Wissenschaftler. Und genau über diese verbreitet sich auch das Corona-Virus. „Zusätzlich bedingt die UV-Strahlung die Stabilität der Viren“, ergänzt Lehr.

Das Positive: Die Eindämmung des Infektionsgeschehens wird laut der Physikerin Viola Priesemann diesen Winter – im Gegensatz zum letzten Jahr – jedoch einfacher werden. „Es sind ja viele Menschen geimpft oder immunisiert“, sagt die Physikerin. Das hilft, Infektionsketten schneller zu durchbrechen.

Zudem spielt das Verhalten jedes Einzelnen eine wichtige Rolle. „Wie stark die Zahlen letztlich steigen, hängt auch davon ab, wie viele sich jetzt noch impfen lassen“, betont Lehr. „Oder alternativ von der Höhe der Durchseuchungsrate.“ Ebenso relevant sei das Sozialverhalten jedes Einzelnen. „Gefühlt herrscht aktuell mehr oder weniger Normalität“, sagt er. Auch wenn einige noch aufpassten, sei von Kontaktbeschränkungen wenig zu spüren.

Wird es im Herbst wieder einen Lockdown geben?

Für Geimpfte und Genesene wird es definitiv keinen weiteren Lockdown geben, das betonte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mehrmals in der Vergangenheit. Dies gelte allerdings nur so lange es keine neue Virus-Variante gibt, gegen die die Impfstoffe nicht helfen. Um die Infektionszahlen einzudämmen, setzen allerdings immer mehr Bundesländer auf eine optionale 2G-Regel. So können Bars oder Restaurants selbst entscheiden, ob Ihnen ein aktueller Corona-Test ausreicht.

Was passiert mit Ungeimpften im Herbst?

Würde es zu einer höheren Belastung der Krankenhäuser kommen und die Impfquoten nicht steigen, könnte auch der Bund über eine verpflichtende 2G-Regel als Maßnahme nachdenken. Das würde bedeuten, dass Geimpfte und Genesene ihrem Alltag ohne Auflagen nachgehen könnten, Ungeimpfte in bestimmten Bereichen des öffentlichen Lebens aber nicht mal mit einem negativen Corona-Test weiterkommen – für sie wäre der Infektionsschutz wie ein Teil-Lockdown.

Wird die Impfquote hochgehen?

Das ist aktuell schwer einzuschätzen. Aktuell sind fast 63 Prozent der Deutschen vollständig geimpft. Fast 67 Prozent hat mindestens eine Impfdosis erhalten. Die Cosmo-Studie der Uni Erfurt, kurz für "Covid-19 Snapshot Monitoring", hat sich mit bislang Ungeimpften auseinandergesetzt. Zu ihren neuesten Erkenntnissen gehört: Ein Fünftel, der noch ungeimpften Erwachsenen ist impfbereit und fast ein Viertel ist nur zögerlich oder unsicher.

Bei 44 Prozent der ungeimpften Erwachsenen gibt es laut Studie gute Chancen, dass sie sich noch impfen lassen. Im Kampf gegen die Corona-Pandemie soll aktuell eine bundesweite Impfaktionswoche neue Fortschritte bringen. Temporär soll zum Beispiel in Bibliotheken oder Einkaufszentren geimpft werden, um es den Menschen zu erleichtern.

Wird jetzt die Pandemie zur Endemie?

Jein. Die meisten Forschenden gehen davon aus, dass wir mit dem Corona-Virus auch in Zukunft leben müssen. Allerdings kann sich die Pandemie zu einer Endemie wandeln. Bei einer Endemie zirkuliert ein Erreger dauerhaft. Wer sich erneut infiziert, ist für eine Weile geschützt, während andere bereits wieder anfällig sind.

So beschreibt Virologe Christian Drosten in seinem Podcast vom 3. September: „Wir wollen, dass es zu einer Erkältung wird. Bei anderen Erkältungsviren wissen wir auch, wir werden es überleben – aber die nächste Erkältung kommt bestimmt.“ Wann der Zeitpunkt aber kommt, liege an „uns und an der Impfquote“, erklärt der Wissenschaftler. England sei hier schon weiter als Deutschland und könne schon im Winter in die „Nachdurchseuchung“ gehen, einer erneuten Ansteckung nach der Durchimpfung.

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In Deutschland hätten sich aber viel weniger Menschen mit dem Virus angesteckt als in Großbritannien, erklärt Drosten. Außerdem sei die Impfquote hierzulande deutlich niedriger. Die Immunitätslücke sei zu groß, um ohne Sorge in die kommenden Monate zu gehen.

Ist die Auffrischungsimpfung sinnvoll?

Die Notwendigkeit einer dritten Impfung wird aktuell untersucht. Die Corona-Impfstoffe sind einer Studie zufolge gegen die derzeit verbreiteten Virusvarianten so wirksam, dass die breite Bevölkerung derzeit keine dritte Impfung benötigt. "Selbst angesichts der Delta-Bedrohung sind Auffrischungsimpfungen für die Allgemeinbevölkerung in diesem Stadium der Pandemie nicht angebracht", heißt es in einem Bericht im Fachmagazin "The Lancet".

Bei besonders gefährdeten Menschen kann eine dritte Impfdosis allerdings sinnvoll sein. Eine am Mittwoch im "New England Journal of Medicine" veröffentlichten Studie kommt zu dem Schluss, dass unter den geimpften Teilnehmenden im Alter von über 60 Jahren die Zahl an Impfdurchbrüchen und schweren Verläufen von Covid-19 "bedeutend geringer" war, wenn sie eine Booster-Impfung erhalten hatten. So habe es bei zweifach Geimpften in Israel mehr als 10-mal so viele nachgewiesene Infektionen und knapp 20-mal mehr schwere Erkrankungen gegeben als bei 3-fach-Geimpften.

In der Diskussion geht es allerdings auch um globale Gerechtigkeit, eine ethische Frage. So erklärte Virologe Drosten in seinem Podcast: „Die armen Länder haben gar keine Impfstoffe und wir versorgen uns hier ein drittes Mal.“ (vad/aknv/dpa)