Berlin. Die Corona-Zahlen steigen auf Rekordwerte. Forscher haben die aktuelle Lage analysiert – und raten zur Vorbereitung auf das Schlimmste.

  • Aktuell werden täglich neue Corona-Rekorde gebrochen
  • Wissenschaftler warnen daher vor einer Überlastung des Gesundheitssystems und fordern drastische Maßnahmen
  • Sie könnten helfen, einen längeren Lockdown zu vermeiden

Die vierte Welle der Corona-Pandemie scheint Deutschland gerade zu überrollen: Politische Reaktionen werden erst noch geplant, für die Bevölkerung geht der „normale“ Alltag erstmal weiter. Angesichts rasch wachsender Fallzahlen und einer großen Impflücke dringt eine Expertengruppe rund um die Max-Planck-Forscherin Viola Priesemann, die Virologin Sandra Ciesek und den Intensivmediziner Christian Karagiannidis, jetzt auf ein erhebliches Beschleunigen des Impftempos – und neue Maßnahmen.

Die Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen sehen für den Fall einer akuten Überlastung des Gesundheitssystems auch einen kurzen, aber intensiven Shutdown als notwendiges Mittel. Dass die Pandemie-Lage in Deutschland derzeit so dramatisch ist und sich rasant weiter zuspitzen könnte, hat aus Sicht der Experten vielerlei Gründe.

Die meisten davon sind wohlbekannt:

  • Zum einen ist die Delta-Variante sehr viel ansteckender als die Ursprungsvariante zu Beginn der Pandemie. Auch Geimpfte oder Genesene könnten sich, wenn auch seltener infizieren und das Virus weitergeben. „Es müssen also deutlich mehr Personen immun sein (sei es durch Impfung oder nach einer Infektion), um auch ohne Aufrechterhaltung von zusätzlichen Maßnahmen die Inzidenz niedrig zu halten“, heißt es in dem Strategiepapier.
  • Zum anderen könnte es binnen sehr kurzer Zeit sehr viel mehr Covid-Patienten geben: Wenn sich alle bisher ungeschützten Menschen in diesem Winter infizieren würden, gäbe es nach Ansicht der Wissenschaftler mindestens dreimal mehr Personen auf den Intensivstationen als im gesamten letzten Winter.
  • Ein weiteres großes Problem sei, dass die Reservekapazitäten auf den Intensivstationen dadurch, dass das Personal dauerhaft überlastet sei, die Kliniken verlassen habe oder die Arbeitszeit reduziert habe, in diesem Winter deutlich geringer sind als im letzten Winter. Durch Personalmangel und Meldekorrekturen stehen rund 4000 Betten weniger zur Verfügung als im letzten Jahr.
  • Auch warnen die Experten vor den Belastungen des Gesundheitssystems durch andere Infektionskrankheiten: Im Winter 2020/21 gab es aufgrund der Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus kaum Infektionen mit Influenza oder mit anderen Atemwegserregern, die potenziell schwere Erkrankungen verursachen können. „In der Spitze der letzten starken Influenzawelle 2018 lagen zeitgleich etwa 3.000 Patienten auf der Intensivstation. Sollte sich dies im Winter 2021/22 wiederholen, käme dies noch zu der aktuell stark steigenden Zahl an COVID-19 Erkrankten hinzu“, schreiben sie.

„Not-Aus“ statt Lockdown: Wissenschaftler empfehlen kurze Corona-Auszeit

In dem Winter-Strategiepapier wird bewusst nicht der Begriff Lockdown benutzt. Zudem betonen die Forscher, dass dieses Mal Schulschließungen nur ein letzter Schritt zur Entlastung der Kinder- und Jugendmedizin sein dürften. Die Autoren regen jedoch an, für den Notfall ein Maßnahmenbündel zu planen, das sie „Not-Schutzschalter“ oder „Not-Aus“ nennen.

Im Papier, über das zuerst „Zeit Online“ berichtet hatte, sind bereits konkrete Maßnahmen für eine solche Auszeit gelistet:

  • Home-Office und engmaschige Testpflicht am Arbeitsplatz
  • Verkleinerte Gruppen in Kindergärten und Schulen
  • (Teil-)Schließung von Geschäften, Restaurants, Dienstleistungen und Veranstaltungen
  • Generell deutliches Reduzieren von Kontakten in der Arbeitswelt, der Öffentlichkeit und im Privaten

Vierte Corona-Welle: Halbherziges Handeln wird bestraft

Die Wissenschaftler betonen, dass es besonders wichtig sei, den Shutdown frühzeitig zu planen und „so stark wie möglich durchzuführen, damit sich der Aufwand überproportional auszahlt. Halbherziges Vorgehen habe nicht den erwünschten Effekt. Der Lockdown light im vorigen Winter etwa sei weder effektiv noch zielführend gewesen, heißt es. Bund und Länder wollen am kommenden Donnerstag über neue Corona-Maßnahmen beraten.

Priesemann erläuterte am Donnerstag in einer Videoschalte, dass man mit einer solchen Maßnahme, etwa über zwei Wochen, den Intensivstationen wieder Luft verschaffen könne. Dafür eigneten sich etwa auch Schulferien. „Es ist unklar, ob ein Not-Schutzschalter notwendig wird. Aber es wäre trotzdem hilfreich, schon jetzt einen klaren Plan zu entwickeln, ihn frühzeitig anzukündigen und mögliche Kollateralschäden präventiv abzufangen“, heißt es dazu im Papier. Die Wissenschaftler raten, solche Maßnahmen vorab verfassungsrechtlich und ethisch prüfen zu lassen.

Experten: Impftempo müsse deutlich zunehmen, um Lockdown abzuwenden

Priesemann sagte, sie hoffe, dass die Impf- und Boosterkampagne ausreichend Fahrt aufnehme, um die vierte Welle in den Griff zu bekommen. Sinnvoll wäre dem Papier zufolge ein Tempo wie im Frühsommer, als circa sieben Prozent der Bevölkerung pro Woche zweitgeimpft worden seien. Simulationen zeigten, dass eine Auffrischimpfkampagne mit dieser Geschwindigkeit nach einem Monat erste Wirkung zeigen werde. Derzeit gehe es beim Impfen zu langsam, machte Priesemann deutlich.

Um die Zeit bis zum Erreichen von ausreichend Impfungen und Boostern zu überbrücken, seien deshalb trotzdem harte Einschnitte nötig, hieß es. „Eine vermehrte Testung als alleinige Maßnahme wird zur Durchbrechung der beginnenden Winterwelle wohl nicht reichen.“ Auch die Verhaltensregeln und die 2G-Modelle oder 3G-Beschränkungen werden als für sich nicht ausreichend beschrieben. Der Virologe Christian Drosten, der nicht am Papier beteiligt war, hatte zuletzt ebenfalls erklärt, dass er davon ausgeht, dass es erneut kontakteinschränkende Maßnahmen brauchen werde.

(mit dpa)