Berlin. Nach der Herbstwelle infizieren sich immer weniger Menschen mit dem Coronavirus. Ist die Pandemie jetzt zu Ende? Das sagen Experten.

Wird es jetzt wieder ernst – oder war’s das mit Corona? Die Infektionszahlen sind nach der steilen Herbstwelle Mitte Oktober in den vergangenen Tagen wieder deutlich zurückgegangen. Das Robert Koch-Institut (RKI) erklärt den Rückgang als Effekt der Herbstferien. Andere Experten sehen darin bereits das Ende der Pandemie. Jetzt kehren die letzten Schülerinnen und Schüler aus den Ferien zurück. Und nun?

Corona: Warum sind die Infektionszahlen so stark gesunken?

Die Zeichen stehen auf Entspannung: Die Kurve der täglich gemeldeten Neuinfektionen zeigte zuletzt deutlich nach unten – Ende der Woche meldete das RKI eine bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz von rund 290 – in der Vorwoche waren es noch mehr als 460. Zudem wurden weniger schwere Covid-19-Verläufe erfasst. Die geschätzte Zahl der Arztbesuche in dem Zusammenhang fiel im Wochenvergleich ebenfalls geringer aus, ebenso die Zahl der Labortests.

Entscheidend zudem: Bei der Viruslast im Abwasser zeigte sich beim Großteil der untersuchten Standorte ein fallender Trend – womit klar ist, dass die positive Entwicklung nicht allein dadurch zustande kommt, dass sich weniger Menschen testen lassen.

Doch woran liegt es dann? Das gute Wetter im Oktober? Die wachsende Immunität in der Bevölkerung? Das RKI glaubt an den Herbstferieneffekt: Der „Faktor der Schulferien“ habe die Kontakte reduziert und das Testverhalten beeinflusst, schreiben die Experten im aktuellen Wochenbericht. Das könne jedoch ein vorübergehender Effekt sein, heißt es dort. Auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sieht in der aktuellen Lage „allenfalls eine Atempause“ der Pandemie.

Omikron: Welche Rolle spielen neue Varianten?

Aktuell herrscht in Deutschland weiterhin die Omikron-Sublinie BA.5 vor. Neue Abkömmlinge von BA.5 wie BQ.1 und BQ.1.1, die sich nach Ansicht der europäischen Seuchenschutzbehörde ECDC in den kommenden Wochen durchsetzen dürften, nehmen auch in Deutschland zu. Das Niveau sei aber mit je rund drei Prozent Anteil in einer Stichprobe sehr niedrig, schreibt das RKI.

Welche Folge das hat? Selbst der Gesundheitsminister mag sich nicht festlegen: „Im Moment kann man über bevorstehende Corona-Monate wenig sagen“, schrieb Lauterbach am Freitag auf Twitter.

Die Studienlage sei sehr widersprüchlich. Im besten Fall seien die neuen Varianten in der Bevölkerung weniger ansteckend als im Labor erwartet. Darauf weise etwa die Lage in Frankreich hin, wo BQ.1.1 bereits dominant ist. Immerhin: Studiendaten deuteten darauf hin, dass der derzeit in Deutschland eingesetzte Omikron-Booster auch gegen die zu erwartenden neuen Varianten gut wirken könnte.

Inzidenz sinkt: Kann man überhaupt noch von Pandemie sprechen?

Die WHO bleibt dabei. Schon, weil sie nicht nur Deutschland, sondern die weltweite Lage im Blick hat. Aber auch deshalb, so heißt es unter Fachleuten, weil mit dem Begriff der Pandemie besondere Maßnahmen begründet und finanziert werden können.

In Deutschland dagegen rücken immer mehr Experten davon ab – darunter auch der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (Stiko), der Virologe Thomas Mertens: Der Begriff „Pandemie“ bezeichne eine Situation, in der sich ein neuer Infektionserreger weltweit ausbreitet, der die gesamte Menschheit unvorbereitet trifft, weil es in der Bevölkerung keine immunologische Erfahrung damit gibt.

In Deutschland gebe es aber jetzt durch Impfungen und Infektionen eine solche Basisimmunität. „Wir erleben jetzt den normaleren Zustand einer Endemie“, sagte Mertens unserer Redaktion.

„Wir sollten nicht mehr von einer Pandemie sprechen“, sagt der Virologe Thomas Mertens, Vorsitzender der Ständigen Impfkommission (Stiko).
„Wir sollten nicht mehr von einer Pandemie sprechen“, sagt der Virologe Thomas Mertens, Vorsitzender der Ständigen Impfkommission (Stiko). © dpa | David Young

Die Coronavirus-Varianten würden dauerhaft bleiben und auch immer wieder zu Infektionen oder auch Infektionsausbrüchen führen. „Dennoch müssen wir jetzt versuchen, zu einer situationsgerechten Normalität zurückzukehren. Das gilt auch für die Art, wie wir über das Corona-Virus sprechen. In Deutschland sollten wir zunehmend nicht mehr von der Ausnahmesituation einer Pandemie sprechen.“

Das neue Etikett ändere aber nichts an der Notwendigkeit von Schutzmaßnahmen wie Impfungen, Hygiene oder gegebenenfalls auch der Masken. Er bezweifle aber, dass solche Maßnahmen auf Dauer per Verordnung geregelt werden müssen, man könnte hier auch auf Aufklärung, Einsicht und Vernunft setzen.

„Klar ist, dass wir Risikopatienten weiterhin unbedingt schützen müssen. Es kann aber nicht sein, dass wir über Jahre hinaus die gesamte Bevölkerung in kurzen Zeitabständen zu einer Impfung aufrufen, um Re-Infektionen ohne wesentliche Erkrankungen zu vermeiden, solange es keine ganz anderen Virusvarianten gibt.“

Covid-19: Ist Corona inzwischen eine Infektionskrankheit wie die Grippe?

Michael Müller, Vorsitzender des deutschen Laborverbands ALM, spricht von einer „abklingenden“ Pandemie: „Aus unserer Sicht kann zum jetzigen Zeitpunkt dazu übergegangen werden, Covid-19 wie die Influenza-Grippe oder andere Atemwegserkrankungen zu behandeln.“ Nötig bleibe aber die Kontrolle des Infektionsgeschehens mittels Sequenzierung, um das Entstehen und die Verbreitung neuer Virus-Varianten auch weiterhin frühzeitig im Auge zu behalten.

Bei den Deutschen Hausärzten dagegen rollen sie die Augen gen Himmel: „Die wiederholte Diskussion, ob die Pandemie jetzt formal für beendet erklärt werden kann oder nicht, führt am Kern der Sache vorbei“, kritisiert sich Verbandsvorsitzende Markus Beier. „Zwar hat die Belastung durch die Versorgung der Covid-19-Erkrankten im Vergleich zu den Vorjahren abgenommen, Personalausfälle machen vielen Praxen aber auch aktuell wieder sehr zu schaffen.“

Infektionskurve: Was passiert, wenn jetzt die Schule wieder überall anfängt?

Wie künftig die Infektionswellen ausfallen werden, hänge vor allem von neuen Virusvarianten und der Impfquote ab. „Umso bedauerlicher ist es, dass die Impfkampagne aktuell stagniert“, so Beier. „Wir erhalten bei weitem nicht so viele Impfanfragen unserer Patientinnen und Patienten, wie es laut Stiko empfohlen wäre.“ Die Nachfrage sei mau.

Was kommt nach den Herbstferien? Lehrerpräsident Heinz-Peter Meidinger warnt vor Unterrichtsausfall durch infizierte Lehrkräfte.
Was kommt nach den Herbstferien? Lehrerpräsident Heinz-Peter Meidinger warnt vor Unterrichtsausfall durch infizierte Lehrkräfte. © dpa | Armin Weigel

„Wir müssen unbedingt darauf vorbereitet sein, falls die Infektionszahlen nach dem Ende der Herbstferien wieder stark ansteigen“, sagte Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands unserer Redaktion. „Wenn ein erheblicher Teil der Lehrkräfte wegen einer Infektion ausfällt, ist geregelter Unterricht nicht mehr möglich. Dann müssen Stunden gekürzt werden oder Klassen ganz nach Hause geschickt werden.“

Damit die Schulen den Präsenzunterricht auch bei hohen Inzidenzen aufrechterhalten könnten, müssten sie handlungsfähig sein. Aktuell aber gebe es in den wenigsten Ländern klare Kriterien und konkrete Pläne, wie auf eine solche Lage zu reagieren sei. Mögliche Schritte könnten deswegen zu spät kommen.

Der Lehrerverband fordert daher ein Umdenken: Die Schulen sollten jetzt selbst entscheiden können, wann sie vorübergehend wieder zu Schutzmaßnahmen greifen. „Spätestens, wenn 20 Prozent der Lehrkräfte ausfallen, sollten die Schulen Masken im Unterricht einführen können.“ Auf diese Weise ließe sich eine Infektionswelle vor Ort eindämmen, bevor Präsenzunterricht nicht mehr möglich sei.

Corona: Wie reagiert die Politik?

Lauterbach will an den bestehenden Maßnahmen festhalten - die FDP im Bundestag dagegen drängt auf weitere Lockerungen. Es sei an der Zeit, mehr Eigenverantwortung zuzulassen, sagte der gesundheitspolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Andrew Ullmann, dieser Redaktion. „Die staatlich fixierte Isolationspflicht sollte abgeschafft werden“, forderte Ullmann, die Dauer einer Krankschreibung müsse wieder zu einer rein medizinischen Entscheidung werden.

Auch die einrichtungsbezogene Impfpflicht müsse Ende des Jahres auslaufen, denn sie erfülle nicht ausreichend den Zweck des Fremdschutzes. Das Virus bleibe eine Gesundheitsgefahr. Doch es gebe zwischenzeitlich viel Wissen und viele Werkzeuge, um schwere Krankheitsverläufe zu verhindern, so der Mediziner. Neben Masken, Impfungen und Medikamenten nannte der FDP-Politiker auch die Immunität der Bevölkerung: Die bislang publizierten Daten zur Anzahl der Menschen mit Antikörpern gegen das Coronavirus seien „vielversprechend“.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.