Berlin. In Deutschland kommt das Bürgergeld – mit Änderungen. Der Blick über die Bundesgrenzen zeigt: Im Vergleich zahlt kaum ein Land mehr.

Nichts geringeres als die "größte Sozialreform der letzten 20 Jahre" hatte Sozialminister Hubertus Heil mit der Einführung des Bürgergelds versprochen. Mit deutlich mehr Geld als im Hartz-IV-System will die Ampel-Koalition künftig Menschen unterstützen, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten können. Wie kontrovers das neue Modell zur Grundsicherung für Erwerbslose ist, zeigte die vorübergehende Blockadehaltung der CDU. Nun ist es beschlossen – wenn auch mit Änderungen. Blickt man über die Grenzen Deutschlandshinaus, wird klar: Kaum ein Land zahlt so viel Grundsicherung.

Nach EU-Recht ist die Sicherung vor Armut ein Anrecht jedes Bürgers und jeder Bürgerin eines Mitgliedsstaats. Als Richtlinie gilt dabei: Angemessen sind Leistungen, wenn sie gewährleisten, die Armut zu verringern und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Neben der Maßgabe, in der Grundsicherung mindestens 60 Prozent des nationalen mittleren Einkommens zu garantieren, gibt es allerdings wenige handfeste Vorschriften.

Bürgergeld im EU-Vergleich: 27 Länder, zig verschiedene Modelle

Tatsächlich verfehlen fast alle Länder in der EU aber die einzig konkrete Prämisse. In vielen Staaten wird das sogenannte bedarfsgewichtete Grundeinkommen, also das Minimaleinkommen umgerechnet auf den Pro-Kopf-Bedarf an Geld für Lebensmittel, Wohn- und Energiekosten sowie Bildung, Mobilität und anderer Grundbedarf, um Längen unterboten.

Weil es in den 27 EU-Mitgliedsstaaten eine Vielzahl an verschiedenen Sozialsystemen und Grundsicherungsmodellen gibt, ist es kaum möglich, eine repräsentative Übersicht über durchschnittliche Arbeitslosenbezüge zu erstellen oder die Leistungen in anderen Ländern mit dem Bürgergeld zu vergleichen. Die Sozialhilfe ist in den meisten Fällen kein einheitlicher Standardbetrag, sondern ein Bündel aus verschiedenen Unterstützungsmaßnahmen.

Differenzen ergeben sich zumeist nicht nur durch Haushaltszusammensetzung und Familiensituation, sondern auch durch regional unterschiedliche Lebenshaltungskosten. Zahlen der OECD, des Fachmagazins "Wirtschafsdienst" sowie verschiedener Medien erlauben aber eine näherungsweise Betrachtung über die durchschnittlichen Sozialhilfe-Leistungen, die in unterschiedlichen Ländern an Erwerbslose ausgeschüttet werden:

  • Deutschland: 858 Euro für Singles, 1714 Euro für Familien (noch Hartz IV)
  • Italien: 780 Euro für Singles, bis zu 1280 Euro für vierköpfige Familien
  • Niederlande, 1101 Euro für Singles, 1574 Euro für Paar-Haushalte
  • Großbritannien: 368 Euro für Singles
  • Österreich: 978 Euro für Singles, 1593 Euro für vierköpfige Familie
  • Frankreich: 545 Euro für Singles, 1145 Euro für Familien
  • Spanien: 538 Euro für Singles, 1015 Euro für Familien
  • Schweiz: 1015 Euro für Singles, 2193 Euro für vierköpfigen Haushalt

Deutschland und Schweden in Ausnahmerollen: Aufstocker und freiwillige Abgabe

Ein Grund für das verfehlte 60-Prozent-Ziel ist, dass zahlreiche EU-Staaten verschieden definieren, wie die Sicherung des Existenzminimums erreicht wird. In Deutschland orientiert sich die Höhe der Transferleistung an den Konsumbedürfnissen für niedrige Einkommen. Der niederländische Gesetzgeber dagegen sieht eine Sozialhilfe bei 70 Prozent des halbjährlich aktualisierten Netto-Mindestlohns vor.

Überwunden wird die 60-Prozent-Marke des Medianeinkommens leidiglich in einer Handvoll Länder. Irland erfüllt diesen Anspruch, allerdings ebenso wie die Niederlande nur in Bezug auf Single-Haushalte. Während in Deutschland zumindest Familien mit über der Hälfte das Durchschnittseinkommens als Sozialhilfe rechnen können, garantieren nur Dänemark und Litauen das von der EU geforderte Minimum für mehrköpfige Haushalte.

Der Gesetztgeber soll sicherstellen, dass genügend Geld für Wohnraum, Ernährung und Energie zur Verfügung steht. In Deutschland gilt dabei der Bemessungsrahmen für Hartz-IV-Leistungen unabhängig vom Alter oder der beruflichen Biografie – zumindest noch solange, bis das Bürgergeld eingeführt wird. Neben ALG II zählen zur Grundsicherung aber weitere Sozialleistungen, etwa das Wohngeld, Kindergeld sowie Zuschüsse für Förder- oder Bildungsmaßnahmen.

Sozialhilfe in der Schweiz: Erst geht es an die Rücklagen, dann erst zahlt der Staat

So unterschiedlich die Sozialleistungen, so verschieden sind auch die Zeiträume in denen Bedürftige Anspruch auf Hilfszahlungen haben. Im Hartz-IV-System beziehen Arbeitslose nach Beschäftigungsende zwölf Monate lang ALG I und damit 60 Prozent des letzten Nettoeinkommens. Läuft in der Schweiz die Arbeitslosenhilfe nach 400 Tagen aus, dauert es im Schnitt sechs bis sieben Jahre, bis überhaupt Sozialhilfe gezahlt wird. Denn hier sieht der Gesetzgeber vor, dass zunächst alle finanziellen Rücklagen aufgebraucht werden, ehe der Staat aushilft.

In Frankreich haben unter 25-Jährige nur Anspruch auf Arbeitslosengeld, wenn sie in zwei der vorangegangenen drei Jahren in Vollzeit gearbeitet haben. In Großbritannien fallen Leistungen für unter 23-Jährige deutlich geringer aus, als für über 23-Jährige. Berüchtigt ist Deutschland für die Vielzahl an Aufstockern, also Erwerbstätige, deren Einkommen nicht zur Sicherung des Existenzminimums ausreicht. In vielen Ländern Europas gibt es das nicht. Wer in den Niederlanden oder Frankreich mit einer geringfügigen Beschäftigung Löcher in der Haushaltskasse hat, kann nicht unbedingt darauf zählen, dass der Staat ein Mindesteinkommen garantiert.

Abstieg: In Großbritannien sinkt die Sozialhilfe seit Jahren

Eine Ausnahmerolle nimmt Schweden ein. Hier sind die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung freiwillig. Zwar haben nach einer Kündigung erstmal alle Erwerbslosen, ähnlich wie beim deutschen ALG I, Anspruch auf Leistungen. Wer aber länger als 450 Tage arbeitslos bleibt, fällt zurück auf die individuelle Arbeitslosenversicherung. Und wer davon keines eingezahlt hat, muss mit der Minimalstütze von 420 Euro im Monat auskommen. Stand 2019 waren davon rund 5000 Schweden betroffen.

Deutschland nimmt EU-weit eine weitere Ausnahmestellung ein. Rund 7,4 Prozent der Gesamtbevölkerung beziehen Sozialhilfe. Vergleichbar sieht es nur in einem ehemaligen Mitgliedsstaat aus: Großbritannien. Fast jeder zehnte Brite wird vom Fiskus mit dem sogenannten "Universal Credit" unterstützt. Allerdings fällt dieser deutlich niedriger aus als die deutsche Grundsicherung. In Folge der andauernden britischen Krise in Wirtschaft und Politik wurden die Sätze in den vergangenen Jahren mehrfach beschnitten.

Kaum Sozialhilfeempfänger in Skandinavien – Reformen in Italien und Spanien

Viel weniger Menschen beziehen dagegen in Skandinavien und den Benelux-Staaten Stütze. Zwischen zwei und vier Prozent Sozialhilfe-Empfänger gibt es zwischen Finnland und Belgien. Neben der geringen Arbeitslosenquoten in den betreffenden Ländern, ist der erschwerte Zugang über bürokratische Hürden ein Grund für die niedrige Empfängerzahl.

Entsprechend hoch ist die Zahl der Armutsgefährdeten, die in Deutschland Leistungen beziehen. Laut "Wirtschaftsdienst" beziehen 77 Prozent der Menschen unterhalb der Armutsgrenze ALG II. In den ost- und südeuropäischen Nationen erreichen die Maßnahmen deutlich weniger Bedürftige. Nur etwa 30 Prozent erhalten hier Maßnahmen, die laut EU die Voraussetzungen erfüllen, um Menschen vor Armut zu schützen und soziale Partizipation ermöglichen. In den letzten Jahren legte aber Spanien mit einer Reform zum Basiseinkommen den Grundstein für eine deutliche Ausweitung. Ähnliches gelang Italien mit dem Bürgereinkommen.

Dieser Artikel erschien zuerst bei morgenpost.de.