Berlin. War der Katastrophenschutz genug vorbereitet für die Hochwasser in Deutschland? Eine britische Forscherin erhebt schwere Vorwürfe.
Noch stehen die Menschen in den Hochwasser-Regionen unter Schock, dankbar für jede Anteilnahme, für jede politische Hilfszusage. Und doch setzt allmählich eine Debatte ein, die Bund und Länder in Verlegenheit bringen dürfte: Wie steht es um den Bevölkerungsschutz? Und wurden die Menschen zu spät gewarnt?
Eine britische Forscherin jedenfalls erhebt schwere Vorwürfe und spricht von einem "monumentalen Systemversagen" der Behörden in Deutschland. "Die Tatsache, dass Menschen nicht evakuiert wurden oder die Warnungen nicht erhalten haben, legen nahe, dass etwas schiefgegangen ist", wird sie in der "Sunday Times" zitiert.
Hochwasser: Debatte über Katastrophen- und Klimaschutz
Dem ZDF sagte die Professorin für Hydrologie an der britischen Universität Reading am Sonntagabend, man habe Daten zur Warnung über ein umfassend großes Gebiet an Deutschland übermittelt. Aber "irgendwo ist diese Warnkette dann gebrochen, sodass die Warnungen nicht bei den Menschen angekommen sind". Cloke ist eine der Entwicklerinnen des Europäischen Hochwasser-Warnsystems Efas. Eine erste Warnung, schreibt die Londoner "Times", habe es bereits am 10. Juli in dem europäischen Warnsystem gegeben.
Und offenbar stellte sich auch das nordrhein-westfälische Innenministerium auf das Unwetter ein. Amtliche Warnungen vor extremem Unwetter hätten sich am Montag, dem 12. Juli, um 10:28 Uhr konkretisiert, zitiert die "Bild" das Innenministerium. Weil ein solches Ereignis abzusehen gewesen sei, sei am Dienstag eine "Landeslage" eingerichtet worden. Damit sollte frühzeitig erkannt werden, ob in einem Kreis oder einer kreisfreien Stadt überörtliche Hilfe benötigt wird.
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Hochwasser: Die Bilder der Katastrophe
FDP-Politiker Theurer: "Bild eines erheblichen Systemversagens"
FDP-Bundestagsfraktionsvize Michael Theurer sieht schwere Versäumnisse beim Bevölkerungsschutz. "Die rechtzeitigen Warnungen der Meteorologen sind weder von den Behörden noch vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk hinreichend an die Bürgerinnen und Bürger kommuniziert worden“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. "Es bietet sich das Bild eines erheblichen Systemversagens, für das der Bundesinnenminister Seehofer unmittelbar die persönliche Verantwortung trägt.“
Auch Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) forderte am Sonntag im "Bild live"-Politiktalk „Die richtigen Fragen“ Aufklärung, ob der Katastrophenschutz ausreichend funktioniert habe. Es gehe nicht um Schuldzuweisungen.
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Baerbock spricht sich für Koordinierung im Bund aus
Die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, sprach sich am Montag dafür aus, dass der Bund eine größere koordinierende Rolle bei überregionalen Katastrophen wie Fluten oder Waldbränden bekommt. "Der zweite Punkt ist, dass wir Klimaanpassungsmaßnahmen brauchen", sagte sie im ARD-"Morgenmagazin“. Auch CSU-Chef Markus Söder forderte in der Sendung hierbei mehr Anstrengungen: "Wir brauchen schon einen Klima-Ruck in Deutschland."
Im "Spiegel" sagte Baerbock: "Hilfe funktioniert nur, wenn alles ineinander greift. Dafür braucht es eine Instanz, die alle Kräfte bündelt, die schnellstmöglich aus ganz Deutschland oder EU-Nachbarstaaten Hubschrauber oder Spezialgeräte zusammenzieht." Sie sprach von einer schnelleren Koordinierung der verschiedenen Ebenen und Akteure.
Das gelte insbesondere für Ereignisse, die mehrere Bundesländer betreffen oder nicht mehr durch die regionalen Einsatzkräfte bewältigt werden könnten. "Dazu muss das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe mit einer Zentralstellenfunktion ausgestattet werden, wie wir sie in der Polizeiarbeit vom Bundeskriminalamt kennen."
NRW-Innenminister Reul: "Keine großen grundsätzliche Probleme"
Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) räumt indes Verbesserungsbedarf beim Katastrophenschutz in seinem Bundesland ein, sieht hier aber keinen großen grundsätzlichen Probleme. Im "Bild live"-Politiktalk "Die richtigen Fragen" sagte der CDU-Politiker am Sonntagabend: "Es kann nicht alles hundertprozentig funktioniert haben." Denn dann dürfte es keinen Toten gegeben haben. Aber: "Es gab nach meinem heutigen Erkenntnisstand keine großen grundsätzlichen Probleme."
Man werde natürlich darüber nachzudenken haben, wie man Warnsysteme verbessern könne, etwa, wie man jene erreichen könne, die keine Warn-App vor Unwetter-Katastrophen hätten, sagte Reul. Auch bei der Koordination der Katastrophenhilfe sei "wahrscheinlich noch einiges zu tun". Der Minister lehnte aber eine Zentralisierung des Katastrophenschutzes in Berlin ab.
Kritik übte zuvor auch bereits der Deutsche Städte- und Gemeindebund. Die Unwetterkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz zeige erneut, "dass wir den zivilen Bevölkerungsschutz neu, besser und nachhaltiger aufstellen müssen", sagte Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg unserer Redaktion.
Hochwasserkatastrophe: 95 Warnmeldungen binnen drei Tagen
Von der Nacht des 14. Juli bis zum Freitagnachmittag wurden über die Warn-App "Nina" (Notfall-Informations- und Nachrichten-App) des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) über 95 Warnmeldungen aus Anlass der Starkregen- und Hochwasserereignisse versendet. Solche Apps – auch in anderen EU-Ländern gang und gäbe – halten die Nutzer standortgenau bis auf einen Quadratkilometer auf dem Laufenden und haben Notfalltipps parat.
Allerdings haben nach Angaben des Bundesinnenministeriums nur rund 8,8 Millionen Bürger "Nina" heruntergeladen. Noch besitzt nicht jeder ein internetfähiges Mobiltelefon. Die Anzahl der Smartphone-Anbieter beziffert die private Datenbank Statista mit 60,7 Millionen im Jahr 2020. In der Altersgruppe der 14- bis 49-Jährigen beträgt der Anteil über 95 Prozent, nimmt aber bei den Älteren ab.
Vielerorts sind die Mobilfunknetze ausgefallen
Erschwerend kam bei der Hochwasserkatastrophe hinzu, dass vielerorts der Strom ausgefallen ist, sehr schnell auch die Mobilfunknetze, wie Landsberg weiß. Dann hilft auch eine 100-prozentige Abdeckung mit Smartphones nicht weiter.
Überdies herrschte lange der Eindruck vor, es handele sich um einen großen Starkregen, "ohne dass das dramatische Ausmaß kommuniziert worden ist“, sagte Landsberg. Deswegen seien die Bürgerinnen und Bürger überrascht worden. Die Geschwindigkeit dürfte freilich auch Profis erstaunt haben.
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Sirenen galten als Relikt des Kalten Krieges
In wie vielen Gemeinden mit Sirenengeheul vor den Überschwemmungen gewarnt worden ist, lässt sich noch nicht genau sagen, nur so viel: Vielerorts fehlen Sirenen ganz oder funktionieren nicht. Sie galten als Relikt des Kalten Krieges.
Ein Fehler, der spätestens seit dem 10. September 2020 Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) umtreibt. Da fand ein bundesweiter Warntag statt, der für sich schon eine kleine Katastrophe war: Viele Sirenen blieben stumm, Warnungen kamen mit halbstündiger Verspätung an. Nach dem denkwürdigen Donnerstag fackelte Seehofer nicht lang und versetzte den damaligen BBK-Chef Christoph Unger.
Im Katastrophenschutz hat der Bund keine direkten Zuständigkeiten
Die Personalie war ein Signal, die Nachfolgeregelung auch: Armin Schuster, früherer CDU-Abgeordneter und Bundespolizist, zur Oderflut 2002 der Einsatzleiter der Polizei in Frankfurt/Oder, ein Profi, ein Mann, der beide Welten kennt – Verwaltung wie Politik. Freilich war die Personalentscheidung nicht die Lösung. Das BBK ist nur für den Kriegsfall. Im Katastrophenschutz hat der Bund keine direkten Zuständigkeiten.
Die allgemeine Gefahrenabwehr obliegt den Ländern – die geben sie nicht ab –, die Einsatzleitung vor Ort den jeweiligen Landratsämtern. Seehofer machte daraufhin, was der Bund immer tut, wenn er sich ins Spiel bringen will: Schusters BBK förderte mit 88 Millionen Euro die Instandsetzung und den Neuaufbau von Sirenen in den kommenden zwei Jahren.
Das Unwetter erwischte die Behörden mitten im Neuaufbau
Schuster beteuert, die richtigen Pläne seien in der Umsetzung. Das Unwetter erwischte die Behörden auf dem falschen Fuß: mitten im Neuaufbau. Schuster kann genau erklären, was besser laufen könnte, warum sein Amt mehr Personal und Mittel braucht; und akute Krisenbewältigung genauso wichtig wie langfristige Vorsorge beim Klimawandel. Das BBK könnte ein Gewinner der nächsten Koalitionsverhandlungen werden, wenn um mehr Mittel und Kompetenzen gerungen wird.
Bis dahin muss Schuster aufpassen, dass Versäumnisse nicht an ihm festgemacht werden. Das BBK ist in der vergangenen Woche nicht gerade auffällig geworden. Schusters Amt war im Austausch mit den Behörden und Hilfsorganisationen, lieferte Satellitenbilder aus den Überschwemmungsgebieten und beherbergte in seiner Akademie Menschen, die obdachlos geworden waren.
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Städte fordern Verbesserungen
Die Städte und Gemeinden sehen noch Verbesserungspotenzial. Landsberg fordert ein Warnsystem, "das auch noch funktioniert, wenn flächendeckend der Strom ausgefallen ist“. Auch müsse man im größeren Umfang lebensnotwendige Gegenstände vorhalten wie Notstromaggregate, Zelte, Decken und Arzneimittel. (msa/les/fmg/dpa)