München. Corona-Alarm auf der Wiesn: Zum Start des Oktoberfestes warnen Experten vor vielen Infektionen. Doch die Stadt München ist machtlos.

Das blau-weiß dekorierte Zelt ist mit handbemalten Trachtenfiguren geschmückt, die Bierbänke stehen parat, die Sause kann losgehen. Aber Markus ­Schlawe ist noch nicht in Stimmung, er denkt an die letzten Handgriffe.

Der 50-Jährige ist als Richtmeister der für ihre Fleischsemmeln bekannten Ochsenbraterei für den Aufbau des traditionsreichen Festzelts zuständig und sehnt den Samstagabend herbei. Erst wenn er gegen 21 Uhr oben auf der Empore steht und auf die Feierbiester blickt, wird er erleichtert seufzen: „Geschafft.“

Mit dem Fassanstich und der unvermeidlichen Feststellung „O’zapft is!“ beginnt an diesem Wochenende das erste Oktoberfest seit drei Jahren. Wegen der Pandemie war der Riesenrummel zwei Mal abgesagt worden. Seit der letzten Wiesn 2019 hat sich die Welt verändert, die Stimmung rund um die Theresienwiese ist verhalten. Denn das weltgrößte Volksfest dürfte ein Superspreader-Event werden.

Oktoberfest 2022: Superspreader-Event befürchtet

Offizielle Einschränkungen gibt es keine: Weder einen Impfnachweis noch eine Maske müssen Besucher mitbringen, es soll dicht gedrängt gefeiert werden wie früher. Dabei ist die Gefahr enorm, sich unter 6000 singenden Wiesn-Gängern in einem voll besetzten Zelt wie dem der Ochsenbraterei anzustecken.

„Natürlich wird es dazu führen, dass eine Erhöhung der Fallzahlen auftreten wird“, prophezeit Johannes Bogner, Leitender Oberarzt am LMU-Klinikum der Uni München. Der Münchner Virologe Oliver Keppler drückt es gegenüber dem BR drastisch aus: „Auf einer Skala von eins bis zehn liegt die Wahrscheinlichkeit einer Sars-CoV-2-Exposition nach mehreren Stunden im Zelt nach meiner Einschätzung bei neun bis zehn.“

Oktoberfest 2022: In den Zelten wollen sie dicht gedrängt feiern – wie 2019.
Oktoberfest 2022: In den Zelten wollen sie dicht gedrängt feiern – wie 2019. © EPA-EFE

Die letzten Wochen haben gezeigt, wohin die Entwicklung in München gehen kann. An vielen Orten in Bayern kam es im zeitlichen Zusammenhang mit großen Volksfesten zu starken Anstiegen der Neuinfektionszahlen – etwa in Erlangen nach der Bergkirchweih und in Straubing nach dem Gäubodenvolksfest.

Weder in Mittelfranken noch in Niederbayern waren die Krankenhäuser aufgrund der Corona-Patienten überlastet. Allerdings verzeichnete Erlangen vermehrte Corona-Ausfälle unter Ärzten und Pflegern. „Es ist sehr gut dokumentiert, dass nach lokalen Ereignissen eine messbare Zunahme an Erkrankungsfällen zu Buche schlägt“, so Oberarzt Bogner.

Oktoberfest 2022: Festzelte verzichten auf Masken- und Testpflicht

Ist es eine gute Idee zu schunkeln, als sei Corona vorbei? „Ich kann alle verstehen, die sich die Ungezwungenheit und Normalität vor Corona zurückwünschen. Die anhaltenden Todesfälle und Infektionen zeigen jedoch: Corona ist immer noch präsent und für einige auch weiterhin gefährlich“, sagt die Obfrau der Grünen im Gesundheitsausschuss, die Münchner Bundestagsabgeordnete Saskia Weishaupt, gegenüber unserer Redaktion. „Viele Menschen eng zusammen, schlechte Luftzirkulation, geschlossener Raum und Alkoholkonsum sind perfekte Voraussetzungen für das Virus.“

Bereit für sechs Millionen Besucher: Auf Münchens Theresienwiese beginnt das erste Oktoberfest seit drei Jahren.
Bereit für sechs Millionen Besucher: Auf Münchens Theresienwiese beginnt das erste Oktoberfest seit drei Jahren. © IMAGO

Münchens Alt­oberbürgermeister Christian Ude (SPD) tut sich die Eröffnung deshalb nicht an. Der 74-Jährige und seine Frau bleiben zu Hause: „Wir sind ein Ehepaar aus der Hochrisikogruppe.“

Der Stadt München sind die Hände gebunden. Das aktuell gültige Infektionsschutzgesetz erlaube keine behördlichen AuflagenZugangsbeschränkungen, verpflichtende Hygienekonzepte und Maskenpflicht seien nach derzeitiger Gesetzeslage nicht möglich. Die Gastronomiebetriebe übten das Hausrecht auf den ihnen überlassenen Flächen aus, heißt es aus dem Gesundheitsreferat.

Laut Peter Inselkammer, dem Sprecher der Wiesn-Wirte, wird es in den Zelten keine Einschränkungen geben. Warum nicht? „Weil wir keine Maßnahmen sehen, die grundlegend was bringen würden.“

In der Ochsenbraterei sind sie bereit für den Ansturm. Richtmeister Markus ­Schlawe wird das Zelt nach dem Oktoberfest wieder abbauen – und danach erst mal nach Sylt fahren. Zum Ausspannen. Wenn er vorher nicht krank wird.