Berlin. Die Reproduktionszahl vermittelt einen Eindruck davon, wie sich die Corona-Pandemie hierzulande entwickelt. Was hinter dem Wert steht.

  • Das Robert Koch-Institut (RKI) veröffentlicht täglich die Reproduktionszahl für Deutschland
  • Sie ist ein entscheidender Gradmesser für die Entwicklung der Pandemie
  • Der Wert vermittelt einen Eindruck davon, wie viele Menschen ein Coronavirus-Infizierter im Durchschnitt ansteckt
  • Hierbei ist „1“ der kritische Schwellenwert – ist dieser überschritten, steckt ein Mensch durchschnittlich mehr als eine weitere Person an
  • Zudem lässt der Wert Schätzungen zu, ab wann das deutsche Gesundheitssystem überlastet sein würde
  • Warum der Wert die Einschätzungen von Medizinern und Politikern in der Coronavirus-Pandemie stark beeinflusst – und wie er berechnet wird

Auch Monate nach Beginn der Pandemie blicken die Menschen in Deutschland auf die Veränderung der Reproduktionsrate. Im Zuge der Lockerung der Corona-Maßnahmen und einzelner massiver lokaler Ausbrüche verändert sich die Reproduktionszahl stetig.

Das Robert Koch-Institut (RKI) hat allerdings davor gewarnt, sich bei der Beurteilung der Dynamik der Corona-Pandemie allein auf die Reproduktionszahl zu konzentrieren. Sie sei ein „wichtiger Faktor“, aber „nur eine Messzahl unter vielen“, erklärte RKI-Präsident Lothar Wieler. Es sei „nicht hilfreich, wenn auch in der Öffentlichkeit immer nur auf einen Faktor bezogen wird“. Wichtig seien etwa auch die Neuinfektionen.

Wieler wies ferner darauf hin, dass die vom RKI täglich berechnete Reproduktionszahl nur ein Durchschnittswert für ganz Deutschland sei, hinter dem regional sehr unterschiedliche Werte steckten. Es gebe Gegenden, in denen dieser weit höher sei. Die Zahl bewege sich zudem in einem Schwankungsbereich. Zur Abschätzung der Lage sei sie allein nicht geeignet und dürfe daher auch „nicht aus dem Kontext“ genommen werden. Das sei „ganz wichtig zu verstehen“.

Dennoch: Dieser Wert, auch Reproduktionszahl genannt, gilt als einer der entscheidenden Faktoren für die Bestimmung der Corona-Lage. Wie die Reproduktionszahl berechnet wird und welchen Wert sie für die Einschätzung der Pandemie hat, erklären wir hier.

Was ist die Reproduktionszahl?

Diese Reproduktionszahl zeigt Virologen an, wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt. Sie beschreibt also die Geschwindigkeit, in der sich der Sars-CoV-2-Erreger in Deutschland ausbreitet.

  • Liegt die Reproduktionszahl unter eins, ebbt die Epidemie ab
  • Liegt die Reproduktionszahl über eins, wächst die Zahl der Infizierten exponentiell – und das Gesundheitssystem könnte an seine Grenzen stoßen.

Welchen Wert die Reproduktionszahl in Deutschland aktuell hat, lesen Sie hier: Aktuelle RKI-Fallzahlen und Corona-Reproduktionszahl.

Um die statistischen Schwankungen des R-Werts auszugleichen, hat das Robert Koch-Institut einen 7-Tage-R-Wert eingeführt. Anders als die Reproduktionszahl vergleicht der 7-Tage-R-Wert den 7-Tages-Mittelwert der Neuerkrankungen eines Tages mit dem 7-Tages-Mittelwert vier Tage zuvor. So soll das Infektionsgeschehen vor etwa einer bis etwas mehr als zwei Wochen abgebildet werden.

Wie wird die Reproduktionszahl berechnet?

Spricht man über „die Reproduktionszahl“, dann ist meist die Zahl gemeint, die die RKI-Forscher berechnet haben. Zwar berechnen auch andere deutsche Institute in der Pandemie eine Reproduktionszahl – als maßgeblich für politische Entscheidungen gilt jedoch der RKI-Wert, da sich auch die Bundesregierung auf ihn beruft.

Bei ihrer komplexen Berechnung des Werts blicken die Forscher zunächst einmal auf die Zahl der nachgewiesenen Corona-Infektionen in Deutschland, die das RKI hierzulande selbst erhoben hat. Die jüngsten drei Tage, an denen Infizierte gemeldet wurden, lässt das RKI in seiner Berechnung aber außen vor, da es davon ausgeht, dass in diesem Zeitraum nicht alle Fälle gemeldet wurden und die (noch) nicht vollständigen Zahlen das Bild verzerren würden.

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    Zusätzlich geht das RKI von einer durchschnittlichen Inkubationszeit des Virus von fünf Tagen aus. Diese Schätzung fließt zusammen mit einem „Nowcasting“-Verfahren, bei dem die Zahl der in Deutschland tatsächlich Infizierten ebenfalls geschätzt wird, dann in die Berechnung der Reproduktionszahl (R) ein. Lesen Sie hier: Corona-Glossar: Die wichtigsten Begriffe rund um das Virus

    Das RKI erklärt sein Vorgehen bei der Berechnung von R in einem „Epidemiologischen Bulletin“ wie folgt:

    • „Bei einer konstanten Generationszeit von vier Tagen ergibt sich R als Quotient der Anzahl von Neuerkrankungen in zwei aufeinander folgenden Zeitabschnitten von jeweils vier Tagen. Der so ermittelte R-Wert wird dem letzten dieser acht Tage zugeordnet, weil erst dann die gesamte Information vorhanden ist.
    • Daher beschreibt dieser R-Wert keinen einzelnen Tag, sondern ein Intervall von vier Tagen. Das dazu gehörende Infektionsgeschehen liegt jeweils eine Inkubationszeit vor dem Erkrankungsbeginn.
    • Hat sich die Anzahl der Neuerkrankungen im zweiten Zeitabschnitt erhöht, so liegt das R über 1. Ist die Anzahl der Neuerkrankungen in beiden Zeitabschnitten gleich groß, so liegt die Reproduktionszahl bei 1. Dies entspricht dann einem linearen Anstieg der Fallzahlen.“

    Liegt R in der Coronavirus-Pandemie über 1, kommt es zu einem exponentiellen Anstieg von Fallzahlen – mit gravierenden Folgen für das Gesundheitssystem.

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    Wie ernst muss man die Reproduktionszahl nehmen?

    RKI-Präsident Wieler rät davon ab, die Reproduktionszahl als einzigen Messwert für das Ausmaß der Coronavirus-Pandemie in Deutschland zu nehmen. Schließlich kann der R-Wert auch überschätzt werden – etwa, weil die Testkapazitäten hochgefahren und entsprechend mehr Fälle entdeckt werden.

    Probleme bereitet auch das Meldeverfahren der Infektionsfälle: An Wochenenden sind viele kleinere Labore schlecht besetzt, ihre unzureichenden Zahlen fließen trotzdem in die Berechnung der Reproduktionszahl mit ein.

    Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts, hat die deutsche Reproduktionszahl im Blick.
    Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts, hat die deutsche Reproduktionszahl im Blick. © Getty Images | Pool

    Das RKI versucht, diese statistischen Ungenauigkeiten durch Schätzungen auszugleichen – auch deshalb gab Wielers Institut die Reproduktionszahl mit Schwankungen an. Ein weiteres Problem liegt in der Deutung der Zahl durch die Öffentlichkeit: Die Reproduktionszahl beschreibt einen bundesweiten Wert – über die Verbreitung des Coronavirus in einzelnen Regionen kann sie keinen Aufschluss geben.

    Neben der Reproduktionszahl nennt Wieler weitere zu berücksichtigende Kennzahlen: Darunter die Zahl der täglich gemeldeten Neuinfektionen, die Kapazitäten im Gesundheitssystem und die Testkapazitäten.

    Der Mathematiker Moritz Kaßmann, Experte für Angewandte Analysis an der Universität Bielefeld, empfiehlt für die Kommunikation über die Entwicklung der Corona-Fallzahlen ganz simpel die Zahl der täglichen Neuinfektionen. Der Wert sagt aus, wie viele Menschen täglich neu als Infizierte registriert wurden. Sinkt die Zahl über mehrere Tage, kann das als positiver Trend verstanden werden.

    Wie schätzt die Politik die Reproduktionszahl ein?

    Trotz aller Unsicherheiten: Der R-Wert gibt Orientierung für politische Entscheidungen. Wenn Virologen das „Fieber“ der Pandemie messen, dann nach dem R-Wert. „Schon wenn wir annehmen, dass jeder 1,1 Menschen ansteckt, wären wir im Oktober wieder an der Leistungsgrenze unseres Gesundheitssystems mit den angenommenen Intensivbetten angelangt“, erläuterte Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Beratungen mit den Länderchefs Mitte April.

    Welchen Einfluss haben die Corona-Maßnahmen auf die Reproduktionszahl?

    Zu Beginn der Pandemie nannten Studien für das neue Coronavirus R-Werte zwischen 2,4 und 3,3 – wenn keine Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung getroffen werden. Als die Kontaktauflagen am 23. März eingeführt wurden, lag die Reproduktionsrate bei 1,0. Prompt verbreitete sich in sozialen Netzwerken die Lesart, der Lockdown sei unnötig und unwirksam gewesen.

    Die Virologen haben eine einfache Erklärung: Schon vor dem 23. März waren Großveranstaltungen abgesagt und Zusammenkünfte verboten worden. Dank des Distanzgebots hat sich das Virus nicht schneller verbreitet, allmählich sank die Zahl der Neuinfektionen.

    Am 16. April gab das RKI eine Reproduktionszahl von 0,7 an, was der Epidemiologe Michael Meyer-Hermann in der Talkshow „Anne Will“ indes als „Artefakt der Osterwoche“ bezeichnete. Er vermutete, dass es zu Ostern mehr soziale Kontakte als sonst geben werde, damit mehr Ansteckungen und letztlich einen Anstieg des R-Werts. Und so kam es auch.

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    (pb/san/mit dpa)