Berlin/Brüssel. Die Schlussphase des Abzugs aus Afghanistan ist die gefährlichste. 20 KSK-Soldaten werden als letzte das deutsche Feldlager verlassen.

Die Bundeswehr steht bei ihren großen Auslandseinsätzen unter massivem Druck. Das Attentat auf die Soldaten in Mali war ein Schock für die Truppe. Jetzt blickt die Bundeswehr mit Sorge auf den Afghanistan-Einsatz.

Der Abzug der deutschen Soldaten aus dem Feldlager Masar-i-Scharif hat seine gefährlichste Phase erreicht. Die Taliban erobern im Eiltempo den Norden des Landes zurück – und die Bundeswehr-Soldaten dort sind verwundbar wie noch nie.

Verteidigungspolitiker: „Brisante Lage“

Rund 570 Soldaten halten sich nach jüngsten offiziellen Angaben noch im deutschen Camp Marmal auf. Doch ihnen fehlt wichtige Schutzausrüstung, die schon nach Deutschland zurückgeflogen wurde. Aufklärungsdrohnen zum Beispiel, mit denen Gefahren frühzeitig erkannt werden konnten, sind abtransportiert.

Zur Sicherheit der Truppe hat die Bundeswehr deshalb das Kommando Spezialkräfte (KSK) ins Feldlager eingeflogen. Das Team der Elitekämpfer, das etwa 20 Mann stark sein soll, trägt nun eigene Informationen zur Bedrohungslage zusammen.

Weil die KSK-Soldaten als letzte das Camp verlassen werden, nennen sie sich „The Last 20“ . Verteidigungspolitiker im Bundestag sprechen hinter vorgehaltener Hand von einer „brisanten Lage“. Je weniger Soldaten und Material vor Ort seien, desto leichter sei die Truppe anzugreifen.

Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU): „Die Taliban sind auch Experten, wenn es um Propaganda geht.“
Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU): „Die Taliban sind auch Experten, wenn es um Propaganda geht.“ © dpa | Henning Kaiser

Taliban erobern Distrikt für Distrikt

Der Taliban-Vormarsch wird deshalb im Camp ebenso wie in Berlin mit Nervosität beobachtet. Die radikalislamischen Truppen erobern Distrikt für Distrikt im bisherigen Einsatzgebiet der Bundeswehr, die Provinzhauptstadt Kundus ist praktisch eingekesselt, dort steht eine Offensive der Taliban wohl bevor.

Die afghanische Armee hält den Angriffen im Norden nur schwer stand. Oft werden Ortschaften von den lokalen Sicherheitskräften gleich kampflos übergeben. Für die Zukunft des Landes lässt das Böses ahnen.

Unruhe löste ein Vorstoß von Taliban-Kämpfern bis an den Rand von Masar-i-Scharif aus, nur 20 Kilometer vom Feldlager der Bundeswehr entfernt. Die Taliban verbreiteten via Twitter das Bild eines Kämpfers mit Sturmgewehr am Westtor der Stadt.

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    Anfang Juli soll das deutsche Lager geräumt sein

    Anscheinend mehr eine Provokation als unmittelbare Bedrohung: Ein paar Stunden später waren die Taliban verschwunden, Soldaten der afghanischen Armee sicherten das Tor. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) mahnt deshalb, nicht allen Bildern zu glauben: „Die Taliban sind auch Experten, wenn es um Propaganda geht.“ Auch interessant: Afghanistan-Abzug: Die Angst der vergessenen Helfer

    Doch räumt die Ministerin ein: „Wir sehen Geländegewinne der Taliban, wir sehen, wie die afghanische Armee unter Druck gerät.“ Die Wehrbeauftragte des Bundestags, Eva Högl (SPD), sagt unserer Redaktion: „Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt fragil.“ Die Bundeswehr habe die Lage aufmerksam im Blick.

    „Es ist gut, dass das KSK den Abzug der letzten verbliebenen Soldatinnen und Soldaten sichern hilft. In der letzten Phase des Abzugs kommt es weiter auf ein gemeinsames Agieren der internationalen Partner an“, sagt Högl.

    Taliban-Angriff offiziell unwahrscheinlich

    Anfang Juli soll das Lager geräumt sein, wenn alles nach Plan läuft. Bundeswehr-Generalinspekteur Eberhard Zorn war schon vor ein paar Tagen zum letzten Appell im Camp. Die Soldaten fliegen zunächst in Militärtransportern in die georgische Hauptstadt Tiflis, von dort geht es mit zivilen Chartermaschinen weiter nach Deutschland.

    Dass die Taliban tatsächlich noch angreifen, gilt offiziell als unwahrscheinlich: Es sei strategisch so riskant wie unnötig, den Abzug der Alliierten zu stören, sagen auch Verteidigungsexperten im Bundestag. Kramp-Karrenbauer betont, bislang habe es keine Angriffe auf internationale Truppen gegeben. Die Sicherheit sei bis zum Ende gewährleistet.

    Kämpfer der radikalislamischen Taliban mit ihren Waffen, die sie während der Teilnahme an einer Zeremonie in Herat abgeben.
    Kämpfer der radikalislamischen Taliban mit ihren Waffen, die sie während der Teilnahme an einer Zeremonie in Herat abgeben. © AFP | Hoshang Hashimi

    Die Taliban lehnen die Regierung ab

    Aber Nervosität herrscht dennoch. Denn der Zeitdruck für den Abzug ist enorm: Die Amerikaner, deren Schutzfunktion für die alliierten Truppen vor allem in der Luft unverzichtbar ist, wollen noch schneller als gedacht das Land verlassen. Zeitweise plante die US-Regierung, schon zum amerikanischen Unabhängigkeitstag am 4. Juli weitgehend draußen zu sein. Mehr zum Thema: Bundesregierung will Ortskräften in Ausnahmen besser helfen

    Das ist aber wohl nicht zu schaffen. Die allerletzten Soldaten werden Anfang September abziehen. Und danach? Im Nato-Hauptquartier in Brüssel wird auf umfassende Hilfszusagen verwiesen: Versprochen hat die Allianz der Regierung in Kabul finanzielle Unterstützung, diplomatische Präsenz und die Ausbildung von Spezialkräften der Armee, die künftig außerhalb Afghanistans stattfindet.

    Doch unter den Nato-Partnern werden Befürchtungen lauter, dass dennoch die Taliban schnell die Kontrolle über das Land übernehmen werden – 20 Jahre Einsatz wären dann zum guten Teil umsonst gewesen. Die Taliban lehnen die Regierung ab, sie kämpfen für ein islamisches Regime.

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      Lebensader für die ausländischen Diplomaten

      Die USA bleiben mit nur 650 Soldaten im Land präsent. Sie sollen für den Schutz der ausländischen Botschaften sorgen. Eine wichtige Rolle übernimmt das Nato-Land Türkei, das die Hauptverantwortung für die Sicherung des internationalen Flughafens Kabul tragen wird.

      Der Airport ist die Lebensader für die ausländischen Diplomaten, über ihn wird auch künftig die zivile Entwicklungshilfe und die Militärhilfe abgewickelt; im Falle akuter Terrorbedrohung für den Westen würden hier womöglich auch wieder Nato-Spezialeinheiten landen. Lesen Sie hier: Militärabzug in Afghanistan droht ein Flüchtlingsdrama?

      Großer Abschlussappell mit Bundespräsidenten

      Die ausländische Kontrolle über den Flughafen ist den Taliban indes ein Dorn im Auge. In Deutschland soll der Afghanistan-Einsatz im September in einem großen Abschlussappell mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gewürdigt werden, Kramp-Karrenbauer will schon vorher Bilanz ziehen.

      Die Wehrbeauftragte Högl plädiert für eine breitere öffentliche Debatte: „Nach dem Abzug müssen wir bilanzieren: Was hat der Einsatz gebracht? Was können wir für künftige Einsätze lernen?“

      59 Bundeswehr-Soldaten ums Leben gekommen

      Högl schlägt dazu eine eigene Enquete-Kommission des Bundestages vor. „Die Bundeswehr wurde vom Parlament in den Einsatz entsandt. Daraus resultiert eine besondere Verantwortung“, erklärt sie. Gerade als Angehörige einer Parlamentsarmee wollten die Soldaten wissen, was dieser Einsatz gebracht habe.

      „Das schulden wir vor allem den Angehörigen der Gefallenen und denen, die dort verwundet wurden, aber auch allen, die in Afghanistan ihren Dienst geleistet haben“, sagt Högl. Nach Regierungsangaben sind 59 Soldaten der Bundeswehr im Afghanistan-Einsatz ums Leben gekommen, der letzte fiel 2013.