Kabul. Mit Dschalalabad verliert die afghanische Regierung die vorletzte Großstadt des Landes. Auch sie wurde den Taliban kampflos überlassen.

Die militant-islamistischen Taliban setzen ihre dramatischen Gebietsgewinne weiter fort. Nun haben sie auch die Großstadt Dschalalabad im Osten Afghanistans übernommen. Die Provinzhauptstadt von Nangarhar sei kampflos von den Islamisten erobert worden, bestätigten zwei Provinzräte und ein Bewohner der Deutschen Presse-Agentur am Sonntag.

Damit verliert die Regierung die vorletzte noch unter ihrer Kontrolle stehende Großstadt des Landes. Ein möglicher Angriff auf ihre letzte Bastion Kabul könnte bald erfolgen. Erst am Samstagabend hatten die Taliban den ehemaligen Bundeswehr-Standort Masar-i-Scharif im Norden mehr oder wenig kampflos eingenommen.

Die Islamisten seien um 6.00 Uhr morgens (Ortszeit) nach Dschlalabad, eine wirtschaftlich wichtige Stadt mit 280.000 Einwohnern, eingedrungen, sagte ein Bewohner. Sie würden niemanden belästigen und hätten den Menschen gesagt, sie sollten nicht stehlen. Soldaten, die sie sähen, entwaffneten sie und schickten sie nach Hause, sagte der Bewohner weiter.

Zwei Provinzräte erklärten, es habe keine Kämpfe gegeben. „Kämpfen wäre sinnlos gewesen.“ In sozialen Medien geteilte Bilder zeigten rund ein Dutzend Taliban-Kämpfer im Büro des Provinzgouverneurs. Noch unbestätigten Berichten zufolge übernahmen die Islamisten auch weitere Bezirke in der Provinz Nangarhar. Es wäre damit nur eine Frage der Zeit, bis auch eine durch die Provinz verlaufende Hauptverbindung nach Pakistan über Land unter ihrer Kontrolle stünde.

Afghanistan: Ring um Hauptstadt Kabul wird langsam zugezogen

Der Ring um die Hauptstadt Kabul ist somit mehr oder weniger zugezogen. Präsident Aschraf Ghani hatte am Samstag Sami Sadat, den jungen, ehemaligen Kommandeur des 215. Armeekorps zuständig für den Süden Afghanistans - der mittlerweile praktisch vollständig Taliban-Gebiet ist - zum neuen Sicherheitsbeauftragten für die Stadt Kabul ernannt.

Es ist fraglich, ob der neue Kabul-Beauftragte Sadat noch groß dazu kommen wird, die Kräfte und Verteidigungslinien für die Hauptstadt zu verstärken. Es ist nicht bekannt, wie viele der auf dem Papier rund 300.000 Mann starken Sicherheitskräfte - Armee und Polizei - mittlerweile den Dienst quittiert haben. Am Samstag hatte Ghani in einer Fernsehansprache gesagt, die Sicherheitskräfte „remobilisieren“ zu wollen.

Islamisten erobern afghanische Großstädte

Seit der Entscheidung über den Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan Mitte April haben die Taliban große Teile des Landes erobert. Mittlerweile stehen 20 der 34 Provinzhauptstädte unter ihrer Kontrolle. Landesweit gingen die Kämpfe am Samstag in mindestens fünf Provinzen weiter. Die militanten Islamisten konnten zwei kleine Provinzhauptstädte übernehmen.

Scharana in der Provinz Paktika mit geschätzt 66.000 Einwohnern sei nach Vermittlung Ältester den Taliban kampflos übergeben worden, bestätigten lokale Behördenvertreter. Wenig später bestätigten mehrere lokale Behördenvertreter, dass Regierungsvertreter und Sicherheitskräfte auch Asadabad, die Hauptstadt der Provinz Kunar im Osten des Landes mit geschätzt 40.000 Einwohnern, verlassen hätten. Man habe so zivile Opfer und Zerstörung verhindern wollen.

Zuvor waren mit Herat und Kandahar bereits die dritt- und die zweitgrößte Stadt des Landes an die Islamisten gefallen. Mit Pul-i Alam in der Provinz Logar haben die Taliban auch eine Provinzhauptstadt rund 70 Kilometer südlich von Kabul eingenommen.

Taliban erobern Kandahar und Herat

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