Kabul. Ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban ist die Lage in Afghanistan in vielerlei Hinsicht katastrophal. Die Situation in Kabul.

Am Donnerstag überschwemmen Sturzfluten sieben Provinzen in Afghanistan. Am Samstagmorgen demonstrieren in Kabul mehrere Dutzend Frauen für „Brot, Arbeit, Freiheit“, Taliban feuern mit scharfer Munition Warnschüsse ab und treiben die Protestierenden auseinander. Am Sonntagmorgen bebt die Erde in der Provinz Paktia im Südosten, Menschen geraten in Panik, weil die Erinnerung an das Erdbeben im Juni mit über tausend Toten noch so frisch ist. Vier Tage, die wie unter einem Brennglas die Probleme des Landes am Hindukusch bündeln.

Ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban ist die Lage in Afghanistan in vielerlei Hinsicht katastrophal.

Kabul am Samstagnachmittag. Auf der Dake Afghanaan, der Straße, auf der am Morgen die Frauen für ihre Freiheit demonstriert haben, kauern Männer, manche haben Schuhe vor sich ausgebreitet, andere reparieren Fahrräder. Lesen Sie auch den Kommentar: Afghanistan: Der Westen muss mit den Taliban verhandeln

Kaka Agha sitzt auf einem Plastikstuhl vor einer Wand mit einem Gemälde. Auf dem Bild sind Frauen zu sehen, irgendwer hat ihnen die Gesichter übermalt. Vor sich hat Kaka Agha eine kleine Metallschüssel voller Walnüsse, er ist ein kleiner Mann Mitte 50 mit einem schmalen Gesicht und einem freundlichen Lächeln, weiße Haare, graues Hemd und Hose, seine Finger sind schwarz vom Knacken der Nüsse.

Afghanistan: Tausende Taliban sind in die Hauptstadt Kabul gekommen

Früher hat er pro Tag umgerechnet etwa zehn Euro am Tag verdient, erzählt Kaka Agha, jetzt sei er froh, wenn er in einer Woche so viel verdiene. „Das Geschäft ist okay“, sagt er dennoch und schaut zu dem jungen Mann mit dem dichten schwarzen Bart, der Flecktarnweste und dem geschulterten Sturmgewehr, der in einigen Metern Entfernung das Gespräch interessiert verfolgt.

Der Mann heißt Ali Khan und ist ein Talib. Er stammt aus Takhar, einer Provinz im Norden. In den vergangenen Monaten sind Tausende Taliban in die afghanische Hauptstadt gekommen, die allermeisten von ihnen sind junge Männer, die nie eine normale Schule von innen gesehen haben.

Unser Reporter Jan Jessen (Mitte) im Gespräch mit Verkäufer Kaka Agha.
Unser Reporter Jan Jessen (Mitte) im Gespräch mit Verkäufer Kaka Agha. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Die neuen Herrscher haben ihre Leute in den Schlüsselpositionen der staatlichen Verwaltung untergebracht, bei den Sicherheitskräften, in Hilfsorganisationen. Für einen Talib gibt es in Kabul Arbeit. Zehntausende andere Menschen haben allein in der Hauptstadt ihre Jobs verloren.

„Die Sicherheitssituation ist in Afghanistan viel besser geworden“

„Der Wirtschaft geht es überall auf der Welt schlecht“, sagt Ali Khan lapidar. „Aber die Sicherheitssituation ist in Afghanistan viel besser geworden.“ Die Menschen wüssten das zu schätzen, beteuert er. Ja, natürlich hätten wohl manche Angst gehabt, als er und die anderen Taliban im Sommer vergangenen Jahres die Hauptstadt einnahmen. „Sie haben gedacht, wir sind Wilde, die Babys essen. Aber jetzt sind die Kinder und die Erwachsenen glücklich, weil es so sicher ist.“

Um die Menschen in Afghanistan im Sommer 2022 als glücklich zu bezeichnen, braucht es Zynismus oder eine gefestigte Ideologie. Auf den ersten Blick scheint das Leben in Kabul wieder so zu sein, wie vor der Machtübernahme vor einem Jahr. Straßenhändler bieten Obst und Gemüse, die Geschäfte sind voller Waren. Tatsächlich sind die meisten Menschen, die man in diesen Tagen spricht, sich einig, dass sich die Sicherheitslage verbessert hat.

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„Früher hatten die Leute Geld, wurden aber von Verbrechern bestohlen und ermordet. Heute gibt es Sicherheit, aber kein Geld, viele Leute müssen betteln“, sagt Abdul Jamil. Er verkauft in seinem kleinen Geschäft Goldschmuck, weiß aber nicht, wie er die nächste Mietzahlung stemmen soll. So geht es allen Geschäftsleuten.

Nach der Machtübernahme der Taliban liegt die Wirtschaft am Boden

Die afghanische Wirtschaft liegt am Boden. Die Preise für Lebensmittel und für Sprit sind enorm gestiegen, ein Liter Diesel kostet jetzt umgerechnet über einen Euro. Der augenfälligste Unterschied zur Situation vor einem Jahr ist, dass die Straßen nicht mehr verstopft sind. Autofahren ist zum Luxus geworden.

Viele Frauen leisten zivilen Ungehorsam gegen die rigiden Vorschriften, die die Taliban im Mai erlassen haben. Eigentlich sollen sie ihr Zuhause nur noch in männlicher Begleitung und vollverschleiert verlassen. Tatsächlich sind etliche Frauen allein oder mit anderen Frauen unterwegs, die meisten tragen keine Burka, die Gesichter sind häufig allenfalls hinter Corona-Schutzmasken verborgen.

Wenn der Muezzin zum Gebet ruft, geht das Leben einfach weiter. Dieses Taliban-Regime ist noch entfernt von dem Steinzeit-Regime, das sie zwischen 1996 und 2001 errichtet hatten.

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Die Situation in den Provinzen ist deutlich schlechter als in der Hauptstadt. Ohne massive Unterstützung von Hilfsorganisationen wären im vergangenen Winter Tausende Menschen verhungert. Das World Food Programm hat 18 Millionen Menschen mit Lebensmitteln versorgt, fast die Hälfte der Bevölkerung.

Familienvater: „Früher ging es uns schlecht. Jetzt ist es noch schlimmer“

Auch deutsche Hilfsorganisationen wie das Friedensdorf International haben Unterstützung geleistet, ohne die viele Afghanen nicht überlebt hätten. Die Organisation arbeitet seit 1988 in Afghanistan und holt Kinder zur medizinischen Behandlung nach Deutschland. „Die Versorgungslage ist so schlimm wie noch nie“, sagt Sprecherin Claudia Peppmüller.

Im Büro des Friedensdorfes stellen sich in diesen Tagen viele Eltern mit ihren Kindern vor, die zur Behandlung nach Deutschland kommen sollen. Sie stammen aus allen Provinzen, und alle erzählen das Gleiche: Es gibt keine Arbeit, die Felder verdorren oder gehen in den Fluten der vergangenen Monate unter.

Zehnköpfige Familien müssen mit umgerechnet 20 Euro und weniger im Monat über die Runden kommen. „Früher ging es uns schlecht. Jetzt ist es noch schlimmer“, sagt ein Familienvater aus Baghlan. Gottvertrauen ist das Einzige, was sie nicht in die komplette Hoffnungslosigkeit abgleiten lässt. „Es wird besser werden, so Gott will“, ist ein Satz, der immer wieder fällt.

Ein Mullah, ein religiöser Lehrer aus einem kleinen Dorf in der Provinz Helmand, meint: „Wir haben Gott verärgert, weil unsere Leute betrogen und gestohlen haben und keine guten Dinge tun.“

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.