Kabul/Berlin. Mit dem Taliban-Sieg verändert sich das Leben für die Menschen in Kabul radikal. Binnen weniger Stunden begann hier ein neuer Alltag.

Der Fall Kabuls an die Taliban wurde von der internationalen Gemeinschaft gefürchtet – und erst in einigen Wochen erwartet. Am Ende brauchte es am Sonntag wenige Stunden, bis die Islamisten die Hauptstadt Afghanistans umstellt und später alle Regierungsgebäude besetzt hatten. Für die Bevölkerung bedeutete dies nicht nur Bedrohung – sondern auch radikalen Wande.

Mit der Rückkehr der radikalislamischen Miliz hat sich das Straßenbild von Kabul quasi über Nacht verändert. Zwar geben sich die neuen Machthaber gemäßigt, verkünden eine Generalamnestie für Beamte der bisherigen Regierung und versprechen Frauen mehr Rechte als zu den Zeiten ihrer früheren Herrschaft. Doch viele Einwohner Kabuls glauben den Versprechungen nicht - und kehren deshalb schon aus Selbstschutz zu den Alltagsregeln der einstigen Taliban-Schreckensherrschaft zurück.

Sieg der Taliban: Kabul hat sich über Nacht radikal verändert

Aus den Straßen verschwunden scheinen jegliche kulturellen Überreste der Nato-Mission verschwunden: Weder westliche Mode noch Frauen sind in der Öffentlichkeit noch sichtbar. Stattdessen dominieren Männer in den traditionellen langen Hemden und unförmigen Hosen das Straßenbild von Kabul, im staatlichen Fernsehen laufen islamische Sendungen oder Verlautbarungen des Leiters des Taliban-Medienkanals „Stimme der Scharia“.

Die vergangenen zwei Jahrzehnte sind wie ausgelöscht: Nach der Machtübernahme der Taliban am Sonntag versuchen sich die Menschen in der afghanischen Hauptstadt nun an einer neuen Normalität.

„Die Angst ist da“, sagt ein Ladenbesitzer, der gerade sein kleines Lebensmittelgeschäft wieder geöffnet hat. Seinen Namen will er lieber nicht nennen. „Die Taliban patrouillieren in kleinen Konvois durch die Stadt. Sie belästigen niemanden, aber natürlich haben die Menschen Angst“, erzählt ein weiterer Ladenbesitzer.

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Strenge Vorschriften galten auch schon vor 2001

Bis zu ihrem Sturz im Jahr 2001 durch eine von den USA geführte internationale Militärkoalition hatten die Taliban mittels einer extrem rigiden Auslegung der Scharia, des islamischen Rechts, geherrscht. Musik, Tanz, Fernsehen und andere beliebte Freizeitaktivitäten wie das Steigenlassen von Drachen waren verboten. Mädchenschulen waren geschlossen, Frauen durften keiner Erwerbstätigkeit nachgehen. Sie mussten zudem die Ganzkörperbedeckung Burka tragen.

Die Einhaltung der Vorschriften wurde von einer Religionspolizei überwacht. Die Strafen bei Gesetzesverstößen waren oft grausam. Dieben wurde die Hand abgehackt, es gab öffentliche Auspeitschungen. Frauen, die des Ehebruchs bezichtigt wurden, wurden zu Tode gesteinigt.

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Taliban-Sprecher: "Frauen haben nichts zu befürchten"

An diesem Dienstag gibt es keine Anzeichen dafür, dass diese mittelalterlichen Methoden wieder eingeführt werden könnten. Die Taliban rufen die Beamten auf, „voller Vertrauen“ an ihre Arbeit zurückzukehren. Einige scheinen sich den Rat zu Herzen zu nehmen: Zum ersten Mal seit Tagen sind wieder Verkehrspolizisten auf den Straßen zu sehen - auch wenn sie nicht viel zu tun haben.

Vor dem Eingang zur Grünen Zone, in der die meisten Botschaften und internationalen Organisationen untergebracht sind, demonstrieren ein paar Frauen für ihr Recht, dort wieder als Köchinnen oder Reinigungskräfte arbeiten zu dürfen. Ein Lastwagen mit Taliban-Kämpfern fährt vor, vergeblich versuchen diese, die Frauen zu verscheuchen - sie weichen erst auf Bitten von Zivilisten.

Taliban-Sprecher Suhail Schahin hat am Montagabend versichert, dass Frauen in Zukunft nichts zu fürchten hätten. „Ihr Recht auf Bildung ist ebenfalls geschützt“, beteuert er. Ein weiterer Sprecher erklärte, dass das Tragen einer Burka zudem nicht verpflichtend sei – ein Hijab (Kopftuch) reiche aus. Berichte aus den Provinzen, in denen die radikalislamischen Kämpfer schon länger die Kontrolle übernommen hatten, zeichnen allerdings ein anderes Bild. Auch in Kabul wurden beispielsweise Werbeplakate mit Frauen im Motiv übermalt.

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Tausende Einheimische flüchten vor Taliban

Auch in Kabul laufen einige erste Zusammentreffen zwischen Taliban-Kämpfern und Einwohnern offenbar rauer ab als von deren Führung erwünscht. „Einige sind freundlich und machen überhaupt keinen Ärger“, sagt ein Mann, während er versucht, an einem Kontrollpunkt der Taliban vorbei zu seinem Büro zu gelangen. „Aber andere sind brutal. Sie schubsen dich herum und schreien dich grundlos an.“

Wie wenig viele Menschen den Taliban trauen, haben am Montag auch die chaotischen Szenen am Flughafen gezeigt - als tausende Einheimische verzweifelt versuchten, einen Platz auf den Evakuierungsflügen der westlichen Staaten zu ergattern. Mehr dazu: Evakuierung aus Kabul: Bundeswehr im größten Rettungseinsatz

(fmg/dpa)