Berlin. Unsere Autorin hat Bundeskanzlerin Angela Merkel als Reporterin 15 Jahre lang begleitet. So blickt sie auf den Abschied der Kanzlerin.

Der dramatischste Moment, den ich mit Angela Merkel erlebte, hatte nichts mit Politik zu tun. Sondern mit ausgefallener Technik. Am 29. November 2018 saß ich mit einer Gruppe Journalisten im Regierungsflieger, der uns zum G20-Gipfel nach Buenos Aires bringen sollte. Solche Flüge verliefen immer nach demselben Muster: Eine Weile nach dem Start wurden wir von Regierungssprecher Steffen Seibert in einen Extraraum gerufen, wo Merkel eine halbe bis ganze Stunde lang unsere Fragen beantwortete.

Die Besprechung lief schon einige Zeit (auch Vizekanzler Olaf Scholz war mit dabei), als eine Flugbegleiterin die Kanzlerin aus der Runde holte: „Es ist wichtig.“ Merkel reagierte leicht genervt auf die Störung. Als sie zurückkam, informierte sie uns ganz ruhig, dass wir wegen eines technischen Defekts nach Köln zurückfliegen müssten.

Eine halbe Stunde später landeten wir. Mit harter Bremsung. Ein gefährliches Manöver, denn der für Argentinien vollgetankte Flieger war eigentlich zu schwer für die Landung. Vom Rand des Flugfelds kamen mehrere Feuerwehrfahrzeuge angefahren. Es dauerte eine Weile, bis wir das Flugzeug verlassen durften. Ein Hotel in Bonn nahm uns auf, besorgte zu später Stunde noch etwas zu essen.

Flugzeugpanne: Merkel flug am nächsten Tag im Linienflieger weiter

Bonn statt Buenos Aires, so hatten wir uns diese Reise nicht vorgestellt. Aber wir waren alle erleichtert über den glimpflichen Ausgang. Die Kanzlerin flog am nächsten Morgen ganz früh mit einem Linienflieger weiter, ohne uns.

Was für ein Glück wir gehabt hatten, erfuhren wir erst später. Wegen eines technischen Defekts in einer Verteilerbox war das gesamte Kommunikationssystem ausgefallen, die Crew war nur noch per Satellitentelefon in Funkkontakt. Bis heute bin ich dem Piloten der Flugbereitschaft unendlich dankbar, dass er nicht meinte, die Kanzlerin um jeden Preis nach Argentinien bringen zu müssen.

Merkels analytischer Verstand war beeindruckend

Mit Merkel auf Reisen zu sein, war lehrreich. Weil man noch einmal eine ganz andere Kanzlerin erlebte als die des öffentlichen Auftritts. Bei den Hintergrundgesprächen wirkte sie nahbar und vollkommen unprätentiös. Oft sprachen wir über die Politiker, die sie am Zielort treffen würde, etwa über den amerikanischen Präsidenten Donald Trump, als dieser gerade frisch ins Amt gewählt worden war.

Ihr Ansatz war stets ein pragmatischer: Sie nahm die Gesprächspartner so, wie sie waren – und dachte sich ihren Teil. Bei Donald Trump sollte sie trotzdem damit scheitern. Freilich war sie nicht die Einzige: Der französische Präsident Emmanuel Macron, der Trump mit seinem ganzen Charme umgarnte, zu Militärparaden und zum exklusiven Abendessen in den Eiffelturm eingeladen hatte (offenbar in der Hoffnung, sein wichtigster Ansprechpartner in Europa zu werden), fiel am Ende genauso in Ungnade. Es war eines der wenigen Male, dass ich bei Merkel einen Anflug von Genugtuung zu verspüren glaubte, als sie darüber sprach.

Beeindruckend war ihr scharfer analytischer Verstand und die Gabe, geopolitische Entwicklungen früher als andere wahrzunehmen. So thematisierte sie mehrfach Chinas Streben, wieder zur Weltmacht zu werden, erwähnte das Projekt „Neue Seidenstraße“, als davon in Deutschland außerhalb von Expertenkreisen noch niemand sprach.

Angela Merkel: Durchhaltevermögen, Robustheit, aber kein Pathos

Beeindruckt hat mich auch ihre Robustheit. Wenn wir nach stundenlangen Flügen in andere Zeitzonen erst einmal in den Seilen hingen, ging für sie das Programm gerade erst los. Empfänge, Gespräche, Verhandlungsrunden – und immer lag alle Aufmerksamkeit auf ihr.

Umso auffälliger war deshalb, als sie bei einem Kurzbesuch in Mexiko im Juni 2017 beim Ablaufen der Ehrenparade im Innenhof des Präsidentenpalasts plötzlich am ganzen Körper zitterte. Wir sprachen Steffen Seibert darauf an, der versicherte, es sei nur eine Art Unterzuckerung und mit einer Cola wieder behoben gewesen.

Tatsächlich zeigte Merkel für den Rest des straffen Programms keinerlei Anzeichen von Schwäche, und wir dachten nicht weiter darüber nach. Erst als sich zwei Jahre später die Zitteranfälle häuften, wurde klar, dass selbst bei einer unglaublich resistenten Spitzenpolitikerin wie Merkel Jahre des Dauerstresses ihren Tribut fordern.

Pathos war Merkel zuwider. Das irritierte mich, denn sie ist – wie ich auch – als protestantische Pfarrerstochter wie selbstverständlich mit kirchlichem Pathos aufgewachsen. Himmel und Hölle, Schuld und Sühne, immer ging es um das ganz Große. Doch Merkel, die selbst nie eine brillante Rednerin war, hatte eine Abneigung gegen große Reden.

Merkels „Wir schaffen das“ – eher ein Zufall?

Das war nicht immer ein Vorteil. Gerade in der Flüchtlingskrise, als sich die Gesellschaft immer mehr spaltete, wäre eine derartige Ansprache an die Menschen sicher vorteilhaft gewesen. Selbst der legendäre Satz „Wir schaffen das“, mit dem Merkel auf der Sommerpressekonferenz 2015 die Lage kommentierte, wirkte nicht vorbereitet, sondern eher wie ein zufälliger Kommentar.

Erst in der Pandemie wurde Merkel in ihren Appellen emotional, auch weil sie als Naturwissenschaftlerin früher als andere die Dimension der Gefahr erahnte. Eine Visionärin war Merkel trotzdem nie.

Angela Merkel: Mit der Flüchtlingskrise änderte sich auch ihr Politikstil

Im Gegenteil: Lange Zeit habe ich Merkel als eine Politikerin erlebt, die nicht mutig voranschritt, sondern eher reagierte. Das änderte sich mit der Flüchtlingskrise. Diese hatte gerade begonnen, als ich Merkel erneut auf einer Auslandsreise begleitete. Im Hintergrundgespräch war das beherrschende Thema die Frage, wie es weitergehen würde: Würde Merkel bei ihrem Aufnahme-Kurs bleiben oder die Grenzen dichtmachen?

Mit Klarheit legte uns Merkel dar, warum sie ihren Kurs für richtig hielt. Sie machte deutlich, dass keine Kritik sie davon abbringen würde. Es war eine neue Merkel, die bereit war, für ihre Überzeugung alles zu riskieren. Auch ihre Abwahl.

Merkels Quittung für die Flüchtlingskrise: blanker Hass

Die Quittung für diese Entscheidung waren nicht nur Proteste, sondern zum Teil blanker Hass. Dieser ging an Merkel nicht spurlos vorüber. Als 2016 die Frage im Raum stand, ob sie noch einmal für das Kanzleramt antreten solle, hat sie eine ganze Weile sehr mit sich gerungen. Am Ende siegte die Protestantin in ihr: Merkel hat es als ihre Pflicht empfunden, sich in dieser schwierigen Situation nicht aus der Verantwortung zu ziehen.

Im September 2017, kurz vor der Bundestagswahl, begleitete ich sie im Wahlkampf und machte eine interessante Erfahrung. Bei den Veranstaltungen störten regelmäßig Demonstranten ihre Rede mit Buhrufen und Trillerpfeifen. Anders bei einem unangekündigten Besuch auf einem kleinen Erntemarkt auf Rügen. Nahezu alle Anwesenden reagierten mit Überraschung bis hin zur Begeisterung. Nur einen älteren Mann hörte ich eine vulgäre Beleidigung zischen, er wurde schnell von seiner Frau weggezogen. Noch eindeutiger war die Situation im Ausland. Dort erlebte ich mehrfach Szenen, in denen Merkel von der Bevölkerung wie ein Popstar gefeiert wurde.

Rote Rosen und Großer Zapfenstreich für Merkel zum Abschied

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    Mit den Amtsjahren und der politischen Erfahrung wuchs auch ihre Autorität. Am Ende war sie oft das heimliche Kraftzentrum der Gipfel. Dabei hat sie diese Rolle nie zelebriert – anders als etwa Donald Trump, der die Anwesenden gern warten ließ, um seine Wichtigkeit zu unterstreichen.

    Werde ich Angela Merkel vermissen? Es waren aufregende und spannende Jahre – für das Land wie für mich persönlich. Aber nach 16 Jahren ist es Zeit für etwas Neues, für einen neuen Stil, eine neue Politik – auch wenn man noch nicht weiß, ob diese besser oder schlechter sein wird.

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