Berlin. Israel drängt Zivilisten zur Flucht aus dem Norden Gazas. Frist für Evakuierung ist abgelaufen. Uno befürchtet humanitäre Katastrophe.

Die Zeit drängt. Nachdem am Samstag eine erste Frist für die Evakuierung des nördlichen Gazastreifens verstrichen war, setzte Israels Armee den Menschen am Sonntag bis 13 Uhr Ortszeit eine weitere. Was dann passiert, ist unklar. Eine Bodenoffensive in den Gazastreifen dürfte aber nur noch eine Frage der Zeit sein.

Israel hat den Gazastreifen weitgehend abgeriegelt. Wasser, Strom und Gas sind abgestellt, die Grenzübergänge geschlossen.

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Nach dem Evakuierungsaufruf der israelischen Armee haben sich deren Angaben zufolge Hunderttausende Menschen auf den Weg Richtung Süden gemacht. Wer es nicht rechtzeitig schafft, schwebt unweigerlich in Lebensgefahr. Im Häuserkampf können die Soldaten mithin kaum zwischen Kämpfern und unschuldigen Zivilisten unterscheiden. Es ist das nächste Kapitel einer Tragödie, die vor genau einer Woche mit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel begonnen hatte.

Endet die Tragödie mit einer humanitären Katastrophe?

New York, Ecke 1st Avenue /46th Street, im Hauptquartier der Vereinten Nationen am East River ist Stéphane Dujarric hoch alarmiert. Der 58-Jährige Franzose ist ein erfahrener Diplomat, er sprach schon für die Generalsekretäre Kofi Annan und Ban Ki-moon. Dujarric weiß, dass eine Evakuierung von über 1,1 Millionen Menschen in so kurzer Zeit nicht glücken kann. Es droht das Chaos.

Für seinen Chef, UN-Generalsekretär António Guterres, verfasst er einen dramatischen Appell. Eine Evakuierung würde die bereits bestehende Tragödie in eine „katastrophale Situation“ verwandeln. „Die Vereinten Nationen halten es für unmöglich, dass eine solche Bewegung ohne verheerende humanitäre Folgen stattfinden kann.“

Im Gazastreifen stößt die Uno an die Grenzen ihrer Macht

Wer das rettende Ufer erreichen will – buchstäblich wie bildlich –, soll südlich vom Fluss Gaza sein Glück versuchen. Die humanitäre Lage hat sich im gesamten Gazastreifen, der mit 2,3 Millionen Einwohnern dicht besiedelt ist, dramatisch verschärft. 40 Prozent der Menschen in Gaza sind unter 15 Jahren – es leben dort folglich rund 900.000 Kinder. Sie machen einen Großteil der Flüchtlinge aus.

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Der Gazastreifen wurden von den Israelis komplett abgeriegelt.
Der Gazastreifen wurden von den Israelis komplett abgeriegelt. © dpa | dpa-infografik GmbH

Nacht für Nacht fliegt die israelische Luftwaffe Angriffe gegen mittlerweile Hunderte Ziele: unterirdische Tunnel der Terroristen, militärische Einrichtungen der Kämpfer, die Kommandozentrale und Wohnungen von hochrangigen Hamas-Leuten. Unweigerlich geraten deshalb auch Zivilisten in Lebensgefahr.

Die Uno stößt an die Grenzen ihres Einflusses und vor allem ihrer Möglichkeiten. Gerade teilte ihr Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten UNRWA mit, ihre Unterbringungsmöglichkeiten in der Region seien zu 90 Prozent belegt. Laut dem aktuellen Lagebericht fehlt es zudem an Nahrungsmitteln und Trinkwasser.

Hamas hakt Aufruf zur Räumung als psychologische Kriegsführung ab

Auch das Internationale Rote Kreuz funkt SOS. Die acht Krankenhäuser im Gazastreifen reichen nach Behördenangaben nicht mehr, um Verwundete zu versorgen. Benzin für Generatoren gibt es zwar noch, „aber wahrscheinlich nur noch für einige Stunden“, erzählt der Direktor des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) für die Region Naher Osten, Fabrizio Carboni.

Hunderttausende Palästinenser sind auf der Flucht. Auch das befreundete Ägypten hat die Grenzen geschlossen. Der einzige Ausweg – versperrt. Der Großteil der Bevölkerung stammt von den Palästinensern ab, die nach der Staatsgründung Israels 1948 vertrieben wurden oder fliehen mussten. Müssen sie befürchten, nun ihre zweite Heimat zu verlieren?

Die Hamas-Regierung im Gazastreifen bezeichnet den israelischen Aufruf als Teil der „psychologischen Kriegsführung“ Israels. Sie ruft die Einwohner auf, zu Hause zu bleiben.

Israel wirft der Uno Heuchelei vor

Indes, die Offensive naht. Erster Hinweis: die Mobilisierung von 360.000 Reservisten. Sie ist auch ein Signal an die Hisbollah im Libanon. Zweites Signal: die Entsendung einer Flugzeugträgereinheit in den Osten des Mittelmeers, sie steht für die uneingeschränkte Unterstützung der USA und soll die Freunde der Hamas abschrecken, allen voran den Iran. Dritter Hinweis: die Abriegelung des Gazastreifens, die Luftangriffe, das Großaufgebot an Panzern, Artillerie und Infanteristen. Vorboten des Grauens.

Die Israelis sind grimmig entschlossen, mit größter Härte zuschlagen. Sie werden sich von niemandem umstimmen lassen, auch nicht von der Uno. Auch sie sind am Boden zerstört.

Israels Botschafter in New York, Gilad Erdan, schimpfte, die Reaktion der Vereinten Nationen auf Israels Aufruf an die Bewohner des Gazastreifens sei „eine Schande“. Viele Jahre lang habe die Uno die Augen davor verschlossen, „dass die Hamas bewaffnet ist und die Zivilbevölkerung und die Infrastruktur im Gazastreifen für ihre Morde und die Lagerung ihrer Waffen nutzt“. Das könnte Sie auch interessieren: Einfach erklärt: Wie Gaza zum Brennpunkt wurde