Berlin. Vor Gericht kassierte die deutsche Asylpolitik eine Rüge. Nun verbessert die Regierung den Nachzug bei Eltern, Kindern und Jugendlichen.

Es sind Bilder, die wirken sollen: Außenministerin Annalena Baerbock und Innenministerin Nancy Faeser reichen Schokoriegel in Kinderhände. In der Flughafenhalle blitzen die Lichter der Fotografen. Lächeln, Freude. Trotz der ernsten Kriegslage. Die Botschaft: Die Bundesregierung will den Kindern der Ukraine zur Seite stehen.

Lesen Sie auch: Alle wichtigen Nachrichten zum Krieg in der Ukraine im Newsblog

Die Szene spielte Anfang März am Frankfurter Flughafen. Was die Bilder nicht zeigten: Deutschlands Asylpolitik beim Schutz von Kindern und Familien auf der Flucht steht in dieser Zeit gerade vor Gericht. Es geht um den Familiennachzug. In einem Fall wollte ein Flüchtlingskind sein Recht in Anspruch nehmen und die Eltern nach Deutschland holen.

Asylpolitik: Deutsche Behörden kassieren Rüge vom höchsten EU-Gericht

In einem anderen Fall klagte eine syrische Jugendliche auf Familienzusammenführung, während der Vater in Deutschland noch das Asylverfahren durchlief. In beiden Fällen wurden die Kinder irgendwann volljährig. In beiden Fällen entschieden deutsche Behörden gegen den Nachzug. Gegen die Zusammenführung der Familie auf der Flucht.

Hilfe am Flughafen, im März 2022: Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen, l) verteilt Süßigkeiten an geflüchtete Kinder.
Hilfe am Flughafen, im März 2022: Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen, l) verteilt Süßigkeiten an geflüchtete Kinder. © dpa | Boris Roessler

Anfang August kassiert die Bundesrepublik dann wegweisende Urteile, vom Europäischen Gerichtshof (EuGH), dem obersten Organ der EU-Justiz. In beiden Fällen verstießen die Behörden gegen EU-Recht. Immer wieder fliehen junge Menschen auf eigene Faust, immer wieder werden Familien auf der Flucht getrennt. Nun reagiert die Bundesregierung offenbar auf die EuGH-Urteile – und erleichtert den Familiennachzug von Kindern und Jugendlichen.

Seit 2018 wurde 15.000 minderjährigen Geflüchteten vor Gericht Schutz gewährt

Das geht aus einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Anfrage der Linksfraktion hervor, die unserer Redaktion vorliegt. Um die Entscheidungen des Gerichts „möglichst schnell umzusetzen“, hat das Auswärtige Amt seine Auslandsvertretungen Anfang September 2022 angewiesen, „bislang ruhend gestellte Anträge zum Elternnachzug im Rahmen des Möglichen prioritär abzuarbeiten“.

Lesen Sie auch: Flucht und Migration – das lange Warten auf den Familiennachzug

Die Botschaften sollen die lange Zeit für die Bearbeitung der Visaanträge nun nicht weiter verschärfen. Und in Deutschland: Durchschnittlich bearbeiten Behörden mehr als acht Monate lang Asylverfahren von minderjährigen und unbegleiteten Geflüchteten. Stellen diese jungen Menschen einen Antrag auf Schutz in Deutschland, sind sie im Schnitt gut 15 Jahre alt.

Doch kommt es aufgrund einer Klage gegen die Entscheidung zum Verfahren, kann das bis zu zwei oder sogar drei Jahre dauern. Seit 2018 wurde mehr als 15.000 minderjährigen Geflüchteten vor Gericht doch noch Schutz in Deutschland gewährt. Das zeigt: Die Urteile des EU-Gerichts könnten Tausende junge Menschen und ihre Familien betreffen.

Steigende Asylzahlen: Die neue Praxis ist für die Bundesregierung heikel

Prioritär sollen die Auslandsvertretungen nun über die Fälle entscheiden, die durch die EuGH-Urteile „eindeutig geklärt“ worden seien. In den durch das EU-Gericht nun „eindeutig“ geklärten Fällen, will das Auswärtige Amt „die bisher streitigen Visa erteilen“, aktuell mehr als 500 Verfahren. Genauso bevorzugt abarbeiten sollen die Behörden demnach Visumsanträge von Jugendlichen, die bald volljährig sein werden.

Zudem heißt es in der Antwort der Regierung: „Zum Kindernachzug wurden die Auslandsvertretungen instruiert, dass ein Kind jedenfalls dann als minderjährig anzusehen ist, wenn es nach Stellung des Asylantrages, aber vor Stellung des Visumantrags volljährig geworden“ sei - sofern der Antrag für ein Visum zum Familiennachzug innerhalb von drei Monaten nach der Anerkennung als Flüchtling gestellt wurde. So will die Bundesregierung verhindern, dass ein Kind einen Nachteil durch ein langes Asylverfahren erfährt.

Die Linke begrüßt die neue Praxis im Auswärtigen Amt – und fordert Schadenersatz

Im Bundesamt für Auswärtige Angelegenheiten (BfAA) richtet das Ministerium aktuell ein neues Referat zum Familiennachzug ein. „In Kürze“ würden die Ministerien und Senatsverwaltungen der Länder „über die künftige Praxis der Auslandsvertretungen informiert“, heißt es weiter. Zugleich verweist die Bundesregierung darauf, dass sich die Ministerien in Berlin hinsichtlich der Folgen, die aus den EuGH-Entscheidungen erwachsen, „aktuell noch im Austausch“ befinden würden. Es geht offenbar um Änderungen etwa im Aufenthaltsrecht.

Die Linke begrüßt die neue Praxis im Auswärtigen Amt. Zugleich sei der „bereits angerichtete Schaden durch die jahrelange Verweigerungshaltung der Bundesregierung immens“, sagt die fluchtpolitische Sprecherin der Fraktion, Clara Bünger, unserer Redaktion. „Schutzbedürftige, unbegleitete Flüchtlingskinder wurden von ihren Eltern rechtswidrig über Jahre hinweg getrennt. Eltern wurde der Nachzug ihrer Kinder verwehrt.“ Bünger fordert zudem „eine Form des Schadenersatzes oder der Entschädigung für die erlittenen Menschenrechtsverletzungen“.

Fordert Schadenersatz für die „erlittenen Menschenrechtsverletzungen“: Linken-Politikerin Clara Bünger
Fordert Schadenersatz für die „erlittenen Menschenrechtsverletzungen“: Linken-Politikerin Clara Bünger © dpa | Michael Kappeler

Zugleich ist die neue Praxis für die Bundesregierung heikel. Die Asylzahlen steigen wieder an, Länder und Kommunen klagen über die Kosten und den Mangel an Plätzen in Asylunterkünften. Aktuell debattieren Bund und Länder intern darüber, wie mehr Kapazitäten geschaffen werden können – vor allem angesichts des bevorstehenden langen Kriegswinters in der Ukraine. Niemand weiß, wie stark die Flüchtlingszahlen ansteigen werden.

Doch zugleich ist die Bundesregierung in internationalen Abkommen Verpflichtungen eingegangen – und muss der EU-Rechtsprechung folgen. Dass die deutsche Praxis der Familienzusammenführung bei Kindern und Jugendlichen gegen dieses Recht verstößt, hätte die Politik laut Experten seit 2018 wissen müssen. Schon damals kassierte der EuGH in Luxemburg eine vergleichbare Regel in den Niederlanden.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.