Rom. Warum die neue italienische Regierung nach dem Ausstieg aus der Kernenergie jetzt eine Kehrtwende in der Energiepolitik plant.

Die Tage der letzten drei in Deutschland noch in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke sind gezählt. Zwar hat die Bundesregierung gerade entschieden, dass die Meiler einige wenige Monate länger am Netz bleiben als ursprünglich geplant. Danach soll aber endgültig Schluss sein. Während sich Deutschland also von der Nutzung der Kernenergie verabschiedet, erlebt die Technik in Italien, wo man sich vor fast 40 Jahren von ihr abgewendet hatte, ein Comeback.

Das ist mehr als beachtenswert, ist Italien neben Deutschland doch bislang das einzige große europäische Land, das aus der Atomenergienutzung ausgestiegen ist. Unter dem Druck der Energiekrise sind sich die Italiener aber mit einem Mal schmerzhaft ihrer starken Stromabhängigkeit vom Ausland bewusst geworden. Das Thema bewegt die Bürger, weil sie die Teuerung ihrer Stromrechnungen trotz Regierungshilfen deutlich zu spüren bekommen.

Italien: 75 Prozent der Energie werden importiert

Italien produziert nur 25 Prozent der benötigten Energie selber, die übrigen 75 Prozent werden in Form von Gas, Erdölprodukten und Kohle aus dem Ausland importiert. Zwar sind die erneuerbaren Energien in den vergangenen Jahren deutlich ausgebaut worden, die Produktion von Ökostrom reicht aber bei Weitem nicht aus. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine macht Italien jetzt deutlich, dass die Energie-Abhängigkeit vom Ausland das Land hohen Versorgungsrisiken und einer instabilen und spekulativen Dynamik aussetzt.

Kein Wunder, dass die neue Regierung um die Rechtspopulistin Giorgia Meloni die Rückkehr zur Atomenergie, auf die die Italiener infolge einer Volksabstimmung 1987 verzichtet hatten, als Lösung für die Energieprobleme betrachtet.

AKW: Salvini befürwortet den Bau

Prominentester Verfechter der Wiederaufnahme der Atomproduktion ist Infrastrukturminister Matteo Salvini, dessen Lega zweitstärkste Koalitionspartei ist. „Ich werde hartnäckig für Italiens Rückkehr zur Atomenergie arbeiten. Italien könnte in sieben Jahren ein Atomkraftwerk besitzen und damit Energie zu niedrigeren Kosten als heute erzeugen“, sagte Salvini. So offen befürwortet der Lega-Chef das Projekt, dass er den Bau eines Kernkraftwerks sogar in seiner Heimatstadt, der Finanz- und Industriemetropole Mailand, begrüßen würde.

„Italien kann nicht das einzige große Land der Welt ohne Kernenergie sein. Wir können nicht von der Abschaffung von Gas, Benzin und Diesel reden, ohne über Kernenergie zu diskutieren“, erklärte Salvini und schlug vor, man könne doch ein Atomkraftwerk in Mailand, in seinem Stadtviertel Baggio bauen.

Auf Einwände von Umweltschützern, Italien sei ein dicht bevölkertes und durch Erdbeben, Erdrutsche und Überschwemmungen stark gefährdetes Land, auf dessen Boden man lieber keine Atommeiler bauen sollte, erwiderte Salvini, dass weltweit 440 Kernreaktoren in Betrieb seien, mehrere davon im seismisch aktiven Japan und ein Dutzend davon in Frankreich, gleich hinter der italienischen Grenze. „Reaktoren der neuesten Generation sind die sicherste und sauberste Form der Energiegewinnung, das ist die Zukunft“, versicherte der Lega-Chef.

Nach Tschernobyl sagten die Italiener Nein zur Atomkraft

Diese Ansicht teilt auch der neue Umwelt- und Energieminister Gilberto Pichetto Fratin. „Italien wird eine führende Rolle bei der Entwicklung von Kernfusionstechnologien im Rahmen des europäischen Eurofusion-Programms spielen“, betonte der Minister.

Die Italiener hatten sich 1987 – ein Jahr nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl – in einem Referendum für den Ausstieg aus der Atomenergie ausgesprochen. Im Zuge dessen wurden die beiden damals in Betrieb stehenden Kernkraftwerke am 1. Juli 1990 offiziell stillgelegt. Ein Moratorium für den Bau neuer Kernkraftwerke, das ursprünglich von 1987 bis 1993 galt, wurde auf unbestimmte Zeit verlängert.

2009 kündigte der damalige Regierungschef Silvio Berlusconi an, wieder in die Kernkraft investieren zu wollen, legte sein Vorhaben nach der Katastrophe von Fukushima aber auf Eis. 2011 sprachen sich rund 94,5 Prozent der Italiener in einem weiteren Referendum gegen neue Atomkraftwerke aus.

Der Widerstand gegen die Atomkraft bröckelt

Der Widerstand in Italien, der nach Tschernobyl einen Höhepunkt erreichte, beginnt inzwischen unter dem Druck der Energiekrise zu bröckeln. Daher will Ministerpräsidentin Meloni Pläne für den Bau eines Atomkraftwerks wieder in die Hand nehmen. Dabei muss sie jedoch mit dem sogenannten „Nimby“-Phänomen rechnen – das Kürzel steht für „Not in my Backyard“. Viele Menschen wären also prinzipiell für Atomenergie, aber nicht in ihrem Hinterhof.

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums wollen die italienischen Sozialdemokraten den Bau von LNG-Terminals für den Import von Flüssigerdgas beschleunigen. Zwei Terminals sollen 2023 in der toskanischen Hafenstadt Piombino und im Hafen der Adria-Stadt Ravenna in Betrieb gehen. Damit will Italien seine Abhängigkeit von russischen Gasimporten verringern. Parteichef Enrico Letta besteht jedoch darauf, dass LNG nur eine vorübergehende Lösung sein kann. Laut der Mitte-links-Partei sollten die LNG-Terminals nur für einige Jahre in Betrieb bleiben und vor 2050 abgebaut werden, „um die Aussicht auf einen grünen Wandel nicht zu stören“.

Die Sozialdemokraten betrachten diesen „grünen Wandel“ als eine Chance für die Wirtschaft des Landes. Sie lehnen die Kernenergie ab, weil der Zeitrahmen und die vorhandenen Technologien ihrer Ansicht nach nicht mit einer deutlichen Reduzierung der CO2-Emissionen bis 2030 vereinbar sind.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de