Berlin. Deutschland ist abhängig von russischer Energie. Nun kehrt die Debatte zum Atomstrom zurück. Werden die Meiler länger am Netz bleiben?

In der Ukraine steht im Zuge des russischen Angriffskrieges ein Atomkraftwerk in Flammen – zeitgleich nimmt in Deutschland eine Debatte Fahrt auf, ob Deutschland eine erneute Kehrtwende beim Atomstrom einlegen sollte.

Ende des Jahres sollten auch die letzten drei noch aktiven Meiler vom Netz gehen. Doch der russische Angriff auf die Ukraine hat gezeigt, wie abhängig Deutschland von russischer Energie in Form von Gas, Öl und Kohle ist. Zwar soll der Ausbau der erneuerbaren Energien nun vorangetrieben werden, kurzfristig wird die Bundesrepublik aber in ihrer Abhängigkeit verhaftet werden. Und so stellt sich die Frage: Braucht Deutschland weiterhin eigenen Atomstrom?

Zum Wochenbeginn forderte bereits Nordrhein-Westfalens Wirtschafts- und Energieminister Andreas Pinkwart (FDP) die Überprüfung des Atomausstiegs. Auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hatte sich offen gezeigt, Atomenergie für einen Zeitraum von bis zu fünf Jahren wieder zu nutzen. Am Freitag zog Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger nach: Der Politiker der Freien Wähler will nicht nur einen Aufschub des Atomausstiegs prüfen, sondern auch ausloten, ob bereits abgeschaltete Atomkraftwerke möglicherweise wieder in Betrieb genommen werden könnten.

AKWs länger am Netz lassen – Umweltministerin warnt

Bundesumweltministerin Steffi Lemke warnte eindringlich davor, die AKWs länger am Netz zu lassen als geplant. „Aus Sicherheitsgründen halte ich eine Laufzeitverlängerung der letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland für nicht verantwortbar. In einer Krisenzeit wie dieser kann sie uns sogar verwundbarer machen“, sagte die Grünen-Politikerin unserer Redaktion. „Die große weltweite Sorge um die AKW-Sicherheit in der Ukraine führt uns allen gerade das potenzielle Schadenausmaß von Atomkraftwerken dramatisch vor Augen.“

Unterstützung erhielt Lemke von ihrem Parteichef Omid Nouripour. Ereignisse wie der Angriff auf das Atomkraftwerk Saporischschja in der Ukraine zeigten, „wie groß das Risiko der Atomenergie bleibt und wie wichtig der Atomausstieg bis Ende dieses Jahres ist“, sagte Nouripour unserer Redaktion. Er bezeichnete Söders Förderung einer bis zu fünfjährigen Verlängerung der AKW-Laufzeiten als „Populismus auf Kosten der Sicherheit.“

Wäre der Ausstieg vom Ausstieg dennoch eine Option? Unsere Redaktion beantwortet die wichtigsten Fragen:

Wie viele Atomkraftwerke laufen in Deutschland noch?

In Deutschland liefern derzeit noch drei Atomkraftwerke Strom: Isar 2 im bayerischen Niederaichbach, betrieben von PreussenElektra, der Kraftwerkstochter des Energiekonzerns Eon aus Essen, Emsland im niedersächsischen Lingen, betrieben vom Düsseldorfer Energiekonzern RWE, und Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg. Die Anlage gehört EnBW aus Karlsruhe. Alle drei Anlagen sollen nach dem Atomgesetz Ende 2022 vom Netz.

Wie viel Strom liefern die Anlagen?

Im vergangenen Jahr waren noch drei weitere Atomkraftwerke am Netz: Brokdorf (Schleswig-Holstein, Eon), Grohnde (Niedersachsen, Eon) und Gundremmingen C (Bayern, RWE). Die sechs Anlagen lieferten dem Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme zufolge rund 13,3 Prozent des deutschen Stromangebots.

Können die Anlagen einfach länger laufen?

Rechtlich muss die Bundesregierung entscheiden, dass die AKW länger laufen sollen. Dafür muss das Atomausstiegsgesetz geändert werden. Was einfach klingt, ist kompliziert. So muss unter anderem geklärt werden, wer für den möglicherweise zusätzlich anfallenden Atommüll zahlt.

Mit dem Atomausstieg hatten die Kraftwerksbetreiber insgesamt rund 24 Milliarden Euro in einen öffentlich-rechtlichen Fonds eingezahlt, der Zwischen- und Endlagerung bezahlt. Sind solche rechtlichen Fragen nicht geklärt, wird kein Betreiber seine Anlage länger laufen lassen. Technisch lässt sich die Laufzeit verlängern, zunächst für einige Quartale. Dann allerdings müssen neue Brennstäbe beschafft werden. Weil sich die Konzerne bereits seit Jahren auf das Aus der Kraftwerke vorbereiten, könnte auch das Personal für den Betrieb knapp werden, sollten die Anlagen deutlich länger laufen.

Sind die Betreiber der letzten drei Anlagen – EnBW, Eon und RWE – bereit, die Anlagen länger laufen zu lassen?

EnBW aus Karlsruhe und Eon aus Essen würden mit der Bundesregierung darüber reden. Eon erklärte: „In dieser Ausnahmesituation sind wir bereit, darüber zu sprechen, unter welchen technischen, organisatorischen und regulatorischen Randbedingungen eine verlängerte Nutzung des Kernkraftwerks Isar 2 möglich wäre, sofern dies seitens der Bundesregierung ausdrücklich gewünscht ist.“ Begeisterung klingt anders.

RWE hält sich bisher zurück, setzt wohl eher darauf, seine Braunkohlekraftwerke länger laufen zu lassen. Alle drei Konzerne haben mit Atomkraft abgeschlossen, konzentrieren sich auf völlig andere Geschäftsfelder. So setzt etwa EnBW auf erneuerbare Energien, Eon auf Netze und Energielösungen für Kunden.

Ende 2021 sind Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen C stillgelegt worden. Lassen sie sich wieder ans Netz bringen?

Theoretisch ist das möglich, wenn der Rückbau noch nicht begonnen hat. Aber: Die Betreiber haben sich seit mehr als zehn Jahren auf den Ausstieg vorbereitet. Entsprechend haben sie das Personal geplant. Nachwuchs fehlt, ältere Kollegen bereiten sich auf den Ruhestand vor. Um ein Kraftwerk zu fahren, sind Mitarbeiter mit besonderer atomrechtlicher Lizenz nötig. Eine solche Lizenz gilt immer nur für eine bestimmte Anlage. Wer also bis 2019 Philippsburg 2 steuern durfte, kann nicht in Grohnde anfangen – jedenfalls nicht ohne Nachschulung. Das dauert mindestens ein Jahr für erfahrene Kräfte.

Weil Brennelemente in der Regel drei bis vier Jahre genutzt werden, sind in den Kraftwerken, die gerade abgeschaltet wurden, auch recht wenig frische Elemente eingesetzt – ein Weiterbetrieb war schließlich nicht vorgesehen. Und auch um Anlagen zu reaktivieren, muss der Bundestag das Atomgesetz ändern.

Das Atomkraftwerk Grohnde ist Ende des vergangenen Jahres vom Netz genommen worden.
Das Atomkraftwerk Grohnde ist Ende des vergangenen Jahres vom Netz genommen worden. © Getty Images | Sean Gallup

Gibt es weitere Anlagen, die wieder hochgefahren werden könnten?

Nein. Alle anderen stillgelegten Atomkraftwerke werden bereits zurückgebaut oder sind sicher eingeschlossen.

Welche grundsätzlichen Vor- und Nachteile haben AKW?

Der große Vorteil im Vergleich zur: Die Reaktoren stoßen kein Klimagas CO2 aus. Der große Nachteil: Sie erzeugen radioaktive Abfälle. Und die Endlagerfrage ist in Deutschland immer noch nicht gelöst.

Wie wahrscheinlich sind Neubauten in Deutschland?

Mit dem Krieg in der Ukraine ist einiges, was als unumstößlich galt, plötzlich doch wieder in der Diskussion. Dass neue Atomkraftwerke in Deutschland gebaut werden, gilt aber in der Branche immer noch als ausgeschlossen. Die Planung ist aufwendig, der Widerstand groß: Der Atomausstieg ist in Deutschland gesellschaftlich tief verankert.

Zudem sind die Kosten hoch und die Bauzeit schwer kalkulierbar. Private Investoren sind deshalb kaum zu finden, auch, weil sich Atomkraft wenig rechnet. Neue Anlagen wie Hinkley Point C in England werden nur gebaut, weil der Staat für Abnahmemengen und (hohe) Preise garantiert. Oder Geld zuschießt. Für die USA hat die Bank Lazard errechnet, dass Energie aus Wind seit 2010, aus Solaranlagen seit 2012 günstiger ist als Atomenergie. Zudem verteuerte sich danach Atomenergie zwischen 2010 und 2020 um 33 Prozent, Solarenergie verbilligte sich um 90 Prozent, Windenergie um 70 Prozent.

Wie viele Atomanlagen gibt es weltweit und wie viele werden gebaut?

Insgesamt liefen im Februar nach Zahlen des World Nuclear Industry Status Reports (WNISR) 412 Reaktoren weltweit, 93 davon allein in den USA, gefolgt von Frankreich (56) und China (54). Gebaut werden demnach 54 Anlagen, 20 allein in China. Insgesamt liefern Atomkraftwerke 10,1 Prozent der weltweiten Strommenge.

Wie lange dauert der Bau eines Kraftwerks und was kostet es?

Der WNISR kam für 2020 auf eine durchschnittliche Bauzeit weltweit von rund zehn Jahren. Mehr als 58 Prozent der Projekte verzögern sich im Schnitt um sieben Jahre. Auch in Europa hapert es: Der finnische Reaktor Olkiluoto-3 ging erst kürzlich ans Netz. Ursprünglich geplant war 2009. Frankreichs Prestigeprojekt Flamanville-3 sollte 2012 Strom liefern, neuer Termin ist jetzt 2023. Die Kosten stiegen von 3,4 Milliarden Euro auf 12,7 Milliarden Euro.

Selbst die zügig bauenden Chinesen kämpfen mit technischen Problemen. In England bauen sie mit französischer Technik Hinkley Point C mit zwei Blöcken – mit großzügigen Garantien des Staates. Die Kosten steigen, der Netzanschluss verzögert sich um mehrere Jahre.

Wie gehen Deutschlands Nachbarn mit Atomkraft um?

  • Dänemark: Das Land hat sich bereits 1985 gegen Atomkraft entschieden. Anteil am Strommix: 0 Prozent.
  • Niederlande: Die niederländische Regierung will die Laufzeit des einzigen Atomkraftwerk verlängern und zwei weitere Reaktoren bauen. Anteil am Strommix: 3,2 Prozent.
  • Belgien: Die Belgier wollen aus Atomkraft aussteigen. Die sieben noch am Netz befindlichen Blöcke sollen bis 2025 abgeschaltet werden. Anteil am Strommix: 39,1 Prozent.
  • Luxemburg: Das Land betreibt kein Atomkraftwerk und hat sich gegen Atomenergie ausgesprochen. Anteil am Strommix: 0 Prozent.
  • Frankreich: Frankreich will seine 56 Anlagen modernisieren und teils ersetzen. Die Atomindustrie gehört in weiten Teilen dem Staat und beschäftigt direkt und indirekt rund 200.000 Mitarbeiter. Anteil am Strommix: 67,1 Prozent.
  • Schweiz: Die Schweizer haben 2018 in einer Volksabstimmung entschieden, keine neuen Atomkraftwerke zu bauen. Die vier alten Reaktoren sollen laufenlassen, solange sie sicher sind. Im Schnitt sind sie älter als 45 Jahre. Anteil am Strommix: 35,1 Prozent.
  • Österreich: 1978 haben sich die Österreicher in einer Volksabstimmung gegen Atomkraft ausgesprochen. Ein fertiges Atomkraftwerk ging nicht ans Netz. Der Bau von AKW ist verboten. Anteil am Strommix: 0 Prozent.
  • Tschechien: Um den Kohleausstieg zu stemmen, setzen die Tschechen auf Atomkraft. Zusätzlich zu den sechs bestehenden Anlagen soll eine weitere gebaut werden. Anteil am Strommix: 37,3 Prozent
  • Polen: Die Polen planen derzeit vier Anlagen, die nach 2030 ans Netz gehen sollen. Ob es so kommt, ist unklar. Weder die genaue Technologie noch die Standorte sind klar. Die Diskussion läuft seit 2008. Anteil am Strommix: 0 Prozent

In der internationalen Diskussion taucht das Kürzel SMR auf. Was sind SMR?

SMR steht für Small Modular Reactor, kleiner modularer Reaktor. Das sind standardisierte Anlagen, die in Serie hergestellt werden sollen. Dadurch, so die Idee, werden sie günstiger als einzelne große, jeweils neu geplante Anlagen. Forscher und Unternehmen arbeiten weltweit an unterschiedlichen Konzepten, unter anderem in Dänemark, Frankreich und Tschechien.

Bekannter sind inzwischen TerraPower in den USA, an der Bill Gates beteiligt ist, Terrestrial Energy aus Kanada und der britische Triebwerks- und Turbinenhersteller Rolls Royce. Einziges Projekt in Deutschland: Dual Fluid, hinter dem Kernforscher aus Berlin stehen. Sitz des Unternehmens ist allerdings Kanada, das SMR fördert. Viele der Entwickler versprechen, dass die Anlagen sicherer sind als herkömmliche Reaktoren und weniger Atommüll produzieren.

Warum werden SMR nicht gebaut?

Viele der Projekte, auch das von Dual Fluid existieren nur auf dem Papier. Demonstrationsreaktoren sind teuer. Dual Fluid rechnet mit mehreren Millionen Euro. Eine funktionierende Anlage zur Serienreife zu bringen, kostet demnach rund sieben Milliarden Euro und dauert zehn Jahre. Rolls-Royce schätzt, seine etwa zwei Fußballfelder große Anlage binnen vier Jahren bauen zu können – wenn sie fertig entwickelt ist.

Russland hat zwei SMR auf einem Schiff montiert. Die Akademik Lomonossow ist ein schwimmendes AKW, das bisher allerdings wenig effizient ist, wie WNISR berichtet. Zudem gibt es grundsätzlich Zweifel am wirtschaftlichen Nutzen der SMR: Es müssten tausende Anlagen eines Typs gebaut werden, bevor sich der Einstieg in die Technologie lohne, schreibt das Öko-Institut aus Darmstadt, das sich im vergangenen Jahr 31 von 138 Konzepten, die weltweit verfolgt werden, genauer angesehen hat.

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Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.