Berlin. Die vierte Welle war für Fachleute absehbar. Doch es wurde politisch viel versäumt. Noch immer mangelt es an Ideen gegen die Pandemie.

Zu Jahresbeginn befragte das Wissenschaftsmagazin „Nature“ weltweit 119 Immunologen, Epidemiologen und Virologen zu Corona. 89 Prozent von ihnen hielten es für (sehr) wahrscheinlich, dass Sars-CoV-2 endemisch – beherrschbar – würde. Das bedeutet, dass mittelfristig jeder gegen Covid-19 immunisiert sein wird, durch Impfung oder Infektion. Die vierte Welle, die sich gerade auftürmt, war für Fachleute absehbar.

Nicht absehbar, aber zu befürchten war, was politisch versäumt wurde: Die Gesundheitsämter sind auch zwei Jahre nach Ausbruch des Virus nicht in der Lage, Infektionsketten zurückzuverfolgen; die Zahl der Betten auf den Intensivstationen ist nicht gestiegen, sondern gesunken; etliche Impfzentren wurden geschlossen, obwohl klar war, dass eine dritte Impfdosis notwendig sein würde. Und erst im Oktober wurden die Testzentren runtergefahren oder abgebaut, die jetzt wieder gebraucht werden. Vorausschauende Politik sieht anders aus.

Christian Drosten spricht von „echten Notfallsituation“

Der Virologe Christian Drosten hat seinem aktuellen Podcast den Titel „Eisberg, direkt voraus“ gegeben, er spricht ob der Rekord-Inzidenzen von einer „echten Notfallsituation“ und macht keinen Hehl daraus, dass ihr die Maßnahmen nicht gerecht werden, die am Donnerstag im Bundestag diskutiert werden: Vom kostenlosen Testangebot werden sich viele Geimpfte nicht angesprochen fühlen; für sie ist es kein Freifahrtschein.

Auch 2G-Modelle werden viele Ungeimpfte nicht zum Umdenken bewegen, weil sie von Veranstaltungen ausgeschlossen werden, die ihnen oft wenig bedeuten. Drosten nennt als Beispiel ältere Ungeimpfte aus bildungsfernen Schichten oder mit Migrationshintergrund. Ebenso verhält es sich bei Beschäftigungslosen mit 2G/3G am Arbeitsplatz. Es sind Millionen Menschen, die von der Politik nicht erreicht werden.

Die Inzidenzen steigen in vielen EU-Ländern, in Italien betrug der Sieben-Tage-Anstieg gestern 37 Prozent, im besonders impfwilligen Portugal 45, in Österreich 63, in Frankreich mehr. Fachleute gehen davon aus, dass sich im nächsten Jahr in Europa zwei Staatengruppen herausbilden werden: Die einen sind durch, die anderen noch mitten in der Pandemie. Zur letzten Gruppe zählt Drosten Deutschland, zur ersten Großbritannien.

Prämien für Impfungen und andere Angebote

Der Vergleich drängt sich auf, weil die Impfquoten vergleichbar sind. Obwohl Großbritannien 16 Millionen Einwohner weniger hat, kommt es auf fast doppelt so viele Infizierte (9,3 zu 4,8 Millionen) und mehr Corona-Tote, 142.000 zu 97.000. Wenn Drosten davon spricht, dass die Briten nächstes Jahr durch sein könnten, bedeutet das, dass so viele gestorben sind oder sich infiziert haben (teils mehrfach), dass Corona endemisch ist und die Zahl der saisonalen Krankheitsfälle durch jährlich aktualisierte Impfstoffe und die „natürlich“ erworbene Immunität beherrschbar sein wird.

Wir müssten als Land nicht den opferreichen britischen Weg gehen, wenn sich Millionen Bürger impfen lassen würden. Zu einer Impfpflicht ringt sich der Staat nicht durch, nicht mal bei den teils kasernierten Soldaten. Also müsste man wenigstens die Anstrengungen vervielfachen, um die Ungeimpften zu erreichen: durch Prämien, sonstige Angebote, direkte Ansprache. Es mangelt nicht an Vorschlägen, etwa in Testzentren Impfungen anzubieten.

Wenn man einen Wunsch an den wohl nächsten Kanzler Scholz frei hätte, der am Donnerstag die Corona-Pläne der Ampel vorstellt, dann wäre es, dass er in der Impfpolitik neue Wege probiert. Was bisher diskutiert wird, könnte nicht ausreichen. Und wenn nicht umgesteuert wird und die Zahlen steigen, gibt es Ende des Jahres nur die Wahl zwischen Pest und Cholera, sprich: Lockdown oder Impfpflicht. Oder eine hohe Zahl von Opfern.